There is no Alternative! Wenn man nicht darüber redet.

Zuweilen hilft der Blick des Historikers, zu erkennen, wie eng die herrschende ökonomische Diskussionslage ist. Hier am Beispiel Inflation, Arbeitslosigkeit und Geldmarktpolitik. Man erkennt, der Fokus auf die wichtigsten Parameter ist fast willkürlich. Begriffe wie Paradigmenwechsel werden plötzlich greifbar. Das alles klingt, als benötige die Diskussion das, was man neudeutsch Reframing nennt,

Süddeutsche Zeitung, Titelseite, 16.07.2013

Wirtschaft

Mehr Geld!
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Von Adam Tooze

Lieber fünf Prozent Inflation als fünf Prozent Arbeitslosigkeit“, dazu bekannte
sich Helmut Schmidt im Juli 1972 vor Ruhrkumpeln in der Dortmunder
Westfalenhalle. Ein Statement, das aus Sicht von Ökonomen heute veraltet ist.
Spätestens seit Margaret Thatcher und ihrem berühmten Slogan „There is no
alternative“ wissen wir es besser. Man kann Inflation nicht gegen
Arbeitslosigkeit tauschen. Aber im Zeitalter der von Angela Merkel erneut
propagierten „Alternativlosigkeit“ stimmt Schmidts Kraftwort nachdenklich. Denn
für heutige Ohren sind seine Zahlen und ihre Wertung schon erstaunlich: Heute
würden fünf Prozent Arbeitslosigkeit auf Europa-Ebene als reine Utopie
erscheinen. Fünf Prozent Inflation dagegen wären eine Katastrophe.

Was außerdem frappiert, ist die Selbstverständlichkeit, mit der Schmidt dies
als Alternative hinstellte. Eine Alternative, über die man damals unter
vernünftigen Leuten nachdenken und sprechen konnte. Dass dahinter vielleicht
eine nicht mehr haltbare makroökonomische Theorie stand, ist nicht der Punkt.
Was erstaunt, ist, dass hier keine „Alternativlosigkeit“, sondern eine
Entscheidungssituation postuliert wurde, und dass ein deutscher
Spitzenpolitiker sich offen für eine maßvolle Inflation aussprach.

Dieses Echo aus einer längst verlorenen Welt sollte uns betroffen machen.
Und dass diese Welt so fern und doch so nah ist, sollte die Wirkung nur
intensiver machen. Volkswirte werden uns sagen, dass es keinen Grund gibt,
diesen Zeiten nachzutrauern. Der unterstellte Trade-Off zwischen Inflation und
Arbeitslosigkeit, der von der berühmten Phillips-Kurve im fallenden Bogen
schwungvoll nachgezeichnet wird, galt nicht für die Ewigkeit. In den
Siebzigerjahren führte der Versuch, nach Schmidtscher Manier das eine gegen das
andere auszutarieren, in die berüchtigte Stagflation – es gab mehr Inflation,
aber nicht weniger Arbeitslosigkeit. Statt mit einer stabilen Alternative sah
sich die Politik mit einer sich beschleunigenden Inflationsspirale konfrontiert.

Die Gegenwart, so heißt es, hat daraus die Lehren gezogen. Vieles wird in
der heutigen Krise debattiert, nur die Inflation nicht. Die Europäische
Zentralbank (EZB) hat ein einseitiges Anti-Inflationsmandat. Der
fiskalpolitische Konservatismus ist per Schuldenbremse in der Berliner
Verfassung festgeschrieben und soll nun ganz Europa verordnet werden. Wir
befinden uns in einer anderen Realität als Schmidt im Sommer 1972. Darum stellt
sich also die Frage: Wann begann dieses heutige Denken, wann fing unsere
Gegenwart an? Wie sind wir hierhergekommen?

Die Geschichte, die sich die Zentralbankiers und ihre intellektuellen
Vasallen bis vor fünf Jahren noch erzählten, war die eines Bildungsromans. Man
hatte aus der Politik der Siebzigerjahre und ihren Konsequenzen gelernt. Die
„Great Moderation“, das Ende der Inflation, wurde durch die neue Lehre der
Zentralbankautonomie eingeläutet. Unabhängige Experten etablierten eine neue
Ära der Stabilisierung durch zielstrebige und glaubwürdige Politik.

Aber die Rede von der Great Moderation war verharmlosend. Zeitgleich mit dem
Anfang der Krise des Kommunismus und dem Zusammenbruch der autoritären Regime
in Lateinamerika fand auf beiden Seiten des Atlantiks zwischen 1978 und 1984
ein harter politischer Machtkampf um die Bedingungen der Stabilisierung statt.
In den Bergwerksrevieren von England und Wales wurde er in Straßenschlachten
ausgefochten. Aber auch in den Zentren der Macht ging es hart zu. Es war eine
internationale wie auch nationale Auseinandersetzung. Margaret Thatcher und
Ronald Reagan mögen ihre Schocktherapien auf nationaler Ebene angewendet haben,
zwischen Deutschland und Frankreich ging es europäisch zu.

1979 ersetzte man das Festwährungssystem von Bretton Woods durch das
Europäische Währungssystem (EWS). Aber was aus dieser währungspolitischen
Zusammenarbeit zwischen den Ländern der Europäischen Gemeinschaft werden
sollte, stand zunächst noch nicht fest. Die Bundesbanker befürchteten zunächst
eine Europäische Inflationsgemeinschaft. Erst 1981, im dreiseitigen Machtkampf
zwischen Helmut Schmidt, der sozialistischen Regierung Mitterrands und den
Zentralbanken von Deutschland und Frankreich, fiel endgültig die Entscheidung.
Europa sollte zur Niedriginflationszone werden.

Das Ergebnis war eine fatale Schwächung der sozialliberalen Koalition in
Bonn und die Demütigung Mitterrands. Im Frühjahr 1983 verließen die Kommunisten
zum ersten und letzten Mal die französische Regierung, und Paris schwenkte voll
auf den Austeritätskurs ein. Der Wert des französischen Franc gegenüber der
Deutschen Mark musste mit allen Mitteln gehalten werden. Die Ära des „Franc
fort“, des „starken Franc“ begann. Am Anfang der Great Moderation stand also
erst einmal diese Niederlage der Linken.

Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die in den Neunzigerjahren als
neoliberaler „Washington Consensus“ berühmt werden sollten, hatten europäische
wie amerikanische Väter. Sie wurden untermauert durch die Maastrichter
Verträge, die Währungsunion mit dem Ziel einer Null-Inflation und – das war die
wichtigste Weichenstellung – die Liberalisierung des Kapitalverkehrs.

Gerade diese letzte fundamentale Befreiung des Geldes war, so
unwahrscheinlich es klingt, ein Projekt von enttäuschten französischen
Sozialisten, Männern wie Jacques Delors und Michel Camdessus, die Anfang der
Achtzigerjahre die Krise von Mitterrands Koalition mitgemacht hatten und bis in
die Neunzigerjahre hinein in Brüssel, im IWF und im OECD an leitenden Stellen
saßen. Die antiinflationäre Politik hatte nicht nur gesiegt, sie war nun fest
verankert. Wer nicht glaubwürdig war, dem drohte der Vertrauensentzug der
Bondmärkte. Die Märkte sorgten für Disziplin, so die Lebenslüge der neuen
Ordnung.

Die wahrhaft katastrophalen Folgen dieser Lebenslüge sollte man eine
Generation später zu spüren bekommen. Aber was waren denn damals die
realwirtschaftlichen Ergebnisse des Sieges über die Inflation? Die
wirtschaftliche Unordnung der Siebzigerjahre ist mittlerweile fast
sprichwörtlich. Die Wiederherstellung der Ordnung war zwar unbestreitbar, der
wirtschaftliche Gewinn daraus dagegen viel weniger. Nach dem Jahrzehnt von 1973
bis 1983 ist wohl wahr, dass man mit höherer Inflation nicht weniger
Arbeitslosigkeit erkaufen konnte.

Ebenso wenig gibt es aber Grund zu glauben, dass die erzwungene
Preisstabilität wachstumsfördernd war. Eher im Gegenteil. Das Wirtschaftswunder
war in der Bundesrepublik 1973 erledigt, das Wachstum danach mittelmäßig.
Inflationsfalken lassen sich dadurch aber nicht stören. Für sie war das Ende
der Inflation den Preis wert. Aber warum? Gäbe es vielleicht Gründe, einen
anderen Weg vorzuziehen?

Wir sind heute mit einem riesigen Überhang an nominellen Schulden
konfrontiert. Konsolidierung lautet daher das Schlagwort. Aber der Versuch,
solche Schulden bei stabilen Preisen abzutragen, ist historisch naiv. Seit
Mitte des 19. Jahrhunderts gab es keinen gelungenen Versuch dieser Art. Immer
hat Inflation eine zentrale Rolle gespielt bei der Umverteilung der Lasten und
der Schaffung von Verteilungsspielräumen. Manchmal, wie in den Siegerstaaten
Großbritannien und USA nach dem Zweiten Weltkrieg, ging das geräuschlos
vonstatten. Manchmal, wie in den schnell wachsenden Verliererstaaten nach 1945,
bedeutet die Entwertung einen Kahlschlag.

In unserer heutigen Lage kann es keinen Zweifel geben: Ein robustes Wachstum
im nominellen Einkommen, auch wenn ein Großteil in inflationärer Form
stattfindet, ist der Schlüssel zur finanziellen Entlastung und zur politischen
Stabilisierung der Schuldnerländer im europäischen Süden.

Die Frage lautet jetzt: wie? Es gibt zwei Szenarien. Die technokratische
Version setzt auf die Gewinner der Achtzigerjahre. Die führenden Zentralbanken
sollen einfach höhere Inflationsziele setzen. Und es gibt patriotische Ökonomen
in Deutschland, die fürchten, dass genau dieses Szenario einer gesteuerten
Geldentwertung tatsächlich auf dem Plan stehe. In den Händen von Draghi und
anderen sei der Euro nicht sicher. Es ist nicht zu leugnen, dass man in den
Schaltzentralen der Macht in Washington, London und Tokio offen über höhere
Inflationsziele redet. Olivier Blanchard, der Chef-Ökonom des IWF, plädiert
schon seit 2010 für vier Prozent Inflation.

Aber geht das? Kann man eine moderate Inflation gezielt herbeiführen? Es
gibt Skeptiker auf allen Seiten. Schön wäre es, sagen die Keynesianer. Die
Banken schwimmen im Geld, aber die Preise regen sich nicht. Wo sollen die
Inflationsimpulse dann herkommen? Der Weg zur Stimulierung durch die
Fiskalpolitik ist in Amerika durch den Kongress, in Europa durch Berlin
versperrt. Vielleicht kommen von den überhitzten Zentren der deutschen
Exportindustrie noch Impulse zur Lohnerhöhung? Vielleicht muss man warten, bis
sich die Investitionstätigkeit wieder belebt.

Für die Verteidiger der alten neuen Ordnung sind solche Diskussionen ein
wiederkehrender Albtraum. Zu glauben, dass die Inflation gesteuert werden
könne, war die fatale Illusion der Siebzigerjahre. Selbst eine leichte
Inflation gerät schnell außer Kontrolle. Das ist aus konservativer Perspektive
konsequent gedacht, aber für die demokratische Linke sollte es das Umgekehrte
implizieren.

Wovor sich die Konservativen fürchten, ist doch gerade die viel beschworene
Repolitisierung der Wirtschaft, die Möglichkeit, dass die Verteilungsfrage neu
gestellt werden könnte.

Der Niedergang der Gewerkschaften ist ohne Zweifel zum großen Teil
strukturell bedingt durch die neue globale Arbeitsteilung. Aber es gibt darin
auch einen konjunkturellen Aspekt. Die Demobilisierung in den Achtzigerjahren
ging mit der Deflation einher. Umgekehrt gibt es jedoch kein historisches
Beispiel einer anhaltenden Inflation, in der es nicht zu einem aktiven
Verteilungskampf kam. Wer der klassischen Arbeiterbewegung nachtrauert, sollte
sich daran erinnern, dass sie neben der klassischen Industrie auch etwas mit
den klassischen Inflationen zu tun hatte. Alle Phasen ihrer Ausweitung und
Militanz – Ende des 19. Jahrhunderts, um die beiden Weltkriege herum, in den
Siebzigern – waren Zeiten epochaler Inflation.

Inflationen erzeugen Konflikte, das macht ihre Dynamik aus. Mit ihnen ist
nicht zu spaßen, nicht selten ist Gewalt im Spiel, auf allen Seiten. Aber unter
heutigen Bedingungen kann man nicht behaupten, dass der Sieg über die Inflation
Sicherheit böte. Der heutigen europäischen Linken, der deutschen an erster
Stelle, möchte man in Abwandlung von Horkheimers
Kapitalismus-Faschismus-Formulierung sagen: Wer aber von Inflationskämpfen
nicht reden will, sollte auch von Schuldenschnitten und einer neuen Politik der
Gerechtigkeit schweigen.

Der Autor ist Historiker an der Yale University. Zuletzt erschien von ihm das
Buch „The Wages of Destruction: The Making and Breaking of the Nazi Economy“
(Allen Lane, London).

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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