„Für nichts schäme ich mich mehr als für unsere Beteiligung am Afghanistankrieg“, schreibt der Publizist Jürgen Todenhöfer. ?Er sieht Alternativen zur Kriegspolitik.
„Unsere Sicherheit wird durch den Afghanistankrieg gefährdet“, sagt Todenhöfer. Foto: dpa
19. März 1945, vier Uhr morgens. Frierend stehe ich vierjähriger Knirps vor unserem kleinen Haus in der Burgallee in Hanau. Meine Geschwister sind wegen Bombenalarms in den Keller gebracht worden. Ich bin ausgebüchst. Atemlos sehe ich, wie „mein Hanau“ in einem Feuersturm alliierter Bombergeschwader untergeht. Mehr als 2000 Menschen sterben. Nie werde ich die Bilder der lodernden Stadt, der wie Fackeln brennenden Menschen vergessen.
In meinen 18 Jahren als Mitglied des Deutschen Bundestages war mein größter Stolz, dass wir es immer schafften, unser Land aus Kriegen herauszuhalten. Für nichts schäme ich mich mehr als für unsere Beteiligung am Afghanistankrieg. Wie kommt es, dass die großen deutschen Parteien diesen unsinnigen Krieg trotz der schrecklichen Erfahrungen zweier Weltkriege seit acht Jahren fast widerspruchslos hinnehmen?
Wo ist der Protest gegen die Unehrlichkeit dieses Krieges?
Jürgen Todenhöfer, 69, saß von 1972 bis 1990 für die CDU im Bundestag. 1980 reiste er mit einer Gruppe afghanischer Freiheitskämpfer von Pakistan aus inoffiziell in das sowjetisch besetzte Afghanistan, um auf die Leiden der Flüchtlinge aufmerksam zu machen. Der Regierungssprecher des sowjetischen Präsidenten Leonid Breschnew erklärte daraufhin, wenn man Todenhöfer ergreife, werde man ihn „auspeitschen und erschießen“. 1987 stieg der Jurist bei der Burda-Gruppe ein und war später Vorstandsmitglied. Todenhöfer ist als Publizist tätig und hat verschiedene Bücher auch zum Krieg in Afghanistan veröffentlicht.
Peter Strucks Satz, „unsere Sicherheit werde am Hindukusch verteidigt“, stellt die Realität auf den Kopf. Unsere Sicherheit wird durch den Afghanistankrieg gefährdet. Alle Politiker wissen das. Wer Aufständische mit Bomben bekämpft, tötet immer auch Unschuldige. Mit jedem unschuldig Getöteten wächst der Terror nicht nur in Afghanistan, sondern weltweit. In Deutschland muss der Innenminister Terroristen jagen, die der deutsche Verteidigungsminister durch das Töten afghanischer Zivilisten züchtet. Wir betreiben in Afghanistan ein Terrorzuchtprogramm.
Unwahr ist auch die gebetsmühlenartig vorgetragene Behauptung der Regierung: „Wenn wir den Terror in Afghanistan nicht bekämpfen, kommt der Terror zu uns.“ Sie erweckt den Eindruck, die Bundeswehr kämpfe in Afghanistan gegen die internationale Terrororganisation al-Qaida und hindere diese an Anschlägen in Deutschland. Aber selbst das Oberkommando der US-Streitkräfte hat zugegeben, dass al-Qaida seit langem nicht mehr von Afghanistan aus operiert. Afghanistan war gestern.
Die großen Ausbildungslager von al-Qaida sind seit Jahren zerstört, ihre Finanzströme ausgetrocknet. Bin Laden ist laut CIA weltweit „operativ weitgehend ausgeschaltet“. Expräsident Bush brüstete sich schon 2004 damit, dass drei Viertel der Al-Qaida-Führung gefangen oder getötet seien. Bin Laden ist für den globalen Terrorismus zwar noch immer Inspiration, aber nicht mehr operativer Führer.
Die Taliban jedoch, gegen die die Bundeswehr am Hindukusch kämpft, sind nationale Aufständische, die die westliche Besatzung vertreiben wollen. Für deutsche Städte interessieren sie sich genauso wenig wie seinerzeit der Vietcong für die Städte Amerikas.
Bewusst unwahr ist auch die ständige Behauptung der Bundesregierung, „der zivile Wiederaufbau Afghanistans sei uns genauso wichtig wie der militärische Aspekt“. In Wahrheit gibt unser Land in Afghanistan viermal so viel für militärische Zwecke aus wie für echte Entwicklungshilfe. Die USA mehr als zehnmal so viel. Afghanistan versinkt immer tiefer in Armut. Ein Drittel der Afghanen hungert, drei Viertel haben kein sauberes Trinkwasser, die Kinder- und Müttersterblichkeit ist eine der höchsten der Welt, und zwei Drittel der Mädchen, denen angeblich die besondere Fürsorge unserer Politiker gilt, gehen noch immer nicht zur Schule. Auf der offiziellen „Entwicklungstabelle“ der Vereinten Nationen ist das Land nach der westlichen Invasion um sechs Plätze auf den vorletzten Platz von 182 Nationen zurückgefallen. Und das nennen wir „Wiederaufbau“!
Einer der Gründe für dieses Ehrlichkeitsdefizit liegt darin, dass sich die politische Führung Deutschlands nach 9/11 vor allem aus Bündnisgründen am Afghanistankrieg beteiligt hatte. Außerdem ging man davon aus, der Krieg werde bald vorbei sein. Jetzt hängen unsere politischen Eliten in einem Krieg, den sie nie richtig wollten, und wissen nicht, wie sie wieder rauskommen sollen. So werden immer neue Märchen erzählt, immer neue Kriegsgründe erfunden.
Wo ist der Protest gegen die Unmenschlichkeit dieses Krieges?
Die USA haben von Anfang an keinen Respekt vor der afghanischen Kultur gezeigt. Bei Razzien werden bis heute fast täglich Frauengemächer durchwühlt, Frauen abgetastet, Männer vor ihren Familien bloßgestellt. Afghanen werden behandelt wie Indianer.
Dutzende Hochzeiten und Trauerfeiern wurden bombardiert. Im August 2008 beispielsweise starben bei einer Trauerfeier in Asisabad 90 Zivilisten. Ich habe die Tragödie von Asisabad persönlich nachrecherchiert. Der Tod der Zivilisten wurde auch damals von der Nato tagelang vehement dementiert – selbst dann noch, als Dorfälteste in ihrer Verzweiflung abgerissene Kinder- und Frauenarme in der Moschee von Asisabad ablegten. Was wäre auf den Straßen Deutschlands los, wenn bei uns derartige Massaker stattfänden?
Führende afghanische Politiker haben mir gegenüber erklärt, die Nato bezeichne getötete Afghanen bis zum Beweis des Gegenteils fast immer als „Taliban“. Zwei Drittel der „getöteten Taliban“ seien in Wirklichkeit Zivilisten. Die Verschleierungstaktik der deutschen Regierung im Fall Kundus sei keine Ausnahme, sondern die Regel. Insgesamt hätten die westlichen Besatzungstruppen seit Kriegsbeginn erheblich mehr Zivilisten getötet als die Taliban. Jeder Afghane wisse das.
Es ist gut, dass die Taliban der 90er-Jahre nicht mehr ihre totalitäre Religionsdiktatur ausüben können. Sie hatten während ihrer fünfjährigen Schreckensherrschaft Dutzende Menschen öffentlich in Fußballstadien hinrichten lassen – eine Schande für die afghanische Kultur! Aber seit Oktober 2001 wurden durch westliche Bomben nicht nur Dutzende, sondern tausende unschuldige Afghanen „hingerichtet“. Auch das ist eine Schande – für unsere Zivilisation.
Wo ist der Protest gegen die Torheit dieses Krieges?
Kriege in und gegen Afghanistan sind nicht zu gewinnen. Präsident Obama weiß das. Er will Frieden, aber er hat weder die Kraft noch den Mut, ihn innenpolitisch durchzusetzen. Wie alle kriegführenden Staatschefs fürchtet er, bei einem frühen Truppenabzug als Verräter der Sicherheitsinteressen seines Landes dargestellt zu werden. Also verschärft er den „Krieg gegen al-Qaida“, obwohl dieser in Afghanistan gar keine Rolle mehr spielt, um irgendwann später – möglichst nach einem Sieg über wen auch immer – politisch ungeschoren wieder aus dem Krieg herauszukommen. Er unterscheidet sich damit in nichts mehr von anderen Kriegspräsidenten. Alle wollten erst den Gegner niederringen und dann Frieden. Selbst George W. Bush.
Die USA hatten die Zahl ihrer Soldaten in Afghanistan in den letzten 18 Monaten schon einmal verdoppelt. Das Experiment ging schon damals daneben. Selbst Präsident Karsai ist im persönlichen Gespräch entschieden gegen mehr US-Truppen und mehr deutsche Kampfeinsätze. Doch was zählt schon die Meinung eines afghanischen Präsidenten, den man einst selbst eingesetzt hatte? Die afghanischen Stammesältesten hat man gleich gar nicht gefragt.
Die Anhänger von Truppenaufstockungen verweisen auf das „Modell Irak“. Dort habe 2007 ein „Surge“ von 28.500 Soldaten zu einem drastischen Rückgang der Gefallenenzahlen geführt. Wie die meisten Behauptungen zum Irakkrieg ist auch diese nicht einmal die halbe Wahrheit. Die Verringerung der Zahl gefallener GIs liegt dort vor allem daran, dass sich die US-Truppen inzwischen tief in ihre Stützpunkte eingegraben haben und sich tagsüber kaum noch auf die Straße trauen. Außerdem kämpft der irakische Widerstand inzwischen mit angezogener Handbremse, weil die USA seit zwei Jahren riesige Geldbeträge an die ausgebluteten Stämme zahlen und unübersehbar die weiße Fahne der Abzugsbereitschaft gehisst haben. Dieses taktische Patt kann jedoch jederzeit zerbrechen – wann immer der Widerstand es will.
Allein in Bagdad kommt es täglich auch heute noch zu durchschnittlich zehn oft schweren militärischen Zwischenfällen. Ich war 2009 zweimal in diesem zerbrochenen Land. Nie in meinem Leben habe ich deprimiertere Menschen getroffen – egal ob Sunniten oder Schiiten. Es ist zynisch, das zubetonierte Hochsicherheitsgefängnis Irak mit seinen Millionen Witwen und Waisen, seinen verzweifelten, gefolterten und betrogenen Menschen als Erfolgsmodell für Afghanistan anzupreisen.
Auch der internationale Terrorismus wird durch Obamas „Surge“ nicht abnehmen, sondern zunehmen. Terrorismus ist eine Ideologie. Man kann sie nicht in Grund und Boden bomben. Man muss ihre Ursachen beseitigen. Hauptursache des globalen Terrorismus ist die seit Beginn des westlichen Kolonialismus nie endende, entwürdigende Ungerechtigkeit des Westens gegenüber der muslimischen Welt. Dieser Motor des Terrorismus lässt sich weder durch die Verschärfung des Afghanistankriegs noch durch eine Ausweitung der Luftschläge auf den Jemen oder Somalia abstellen, sondern nur durch einen gerechten Frieden in Afghanistan, im Irak und in Palästina.
Trotzdem gibt der Westen für seine kontraproduktive Antiterrorstrategie Jahr für Jahr immer astronomischere Beträge aus. Er hat hierfür fundamentale zivilisatorische Errungenschaften geopfert oder eingeschränkt – das Recht auf freie Kommunikation, das Recht auf richterliche Anhörung, das Folterverbot, das Verbot von Angriffskriegen – und ganz nebenbei seine Glaubwürdigkeit. Aus dem Krieg gegen den Terror ist ein Krieg gegen zentrale Ideale unserer Zivilisation geworden.
Politiker sind dazu da, Probleme durch Politik zu lösen, nicht durch Kriege. Genau das hatte die Welt von Obama erwartet – und sie erwartet es eigentlich immer noch. Niemand hindert den US-Präsidenten daran, eines Tages doch noch das Richtige zu tun. Und es gibt sehr wohl Alternativen zu seiner Kriegspolitik.
1) Präventive Verhandlungen statt präventiver Kriege. Statt auf Kriege sollte der Westen auch im Afghanistankonflikt auf Verhandlungen im Stil der KSZE setzen – jener „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“, die in den 70er- und 80er-Jahren mithalf, den Ost-West-Konflikt zu überwinden. An dieser Langfrist-Konferenz Afghanistans mit seinen Nachbarn müssten neben dem UN-Sicherheitsrat alle Akteure der Region teilnehmen – Afghanistan, Pakistan, Indien, Iran und Russland. Die Länder am Hindukusch können ihre Probleme nicht alleine lösen.
2)Verhandlungen der USA mit den afghanischen Taliban. Den demnächst 130.000 bis 140.000 westlichen Soldaten aus 43 Ländern stehen gerade einmal 15.000 afghanische Taliban gegenüber. Die Führung dieser kleinen Guerillatruppe hat aus ihren schrecklichen Fehlern der Vergangenheit möglicherweise manches gelernt. Sie setzt sich – anders als die viel brutaleren pakistanischen Taliban – mittlerweile sogar für den Schulbesuch von Mädchen ein und lässt diesen laut New York Times in einigen der von ihr beherrschten Gebiete schon heute zu. Die USA werden mit den afghanischen Taliban verhandeln müssen, so wie sie mit dem Vietcong verhandeln mussten. Wer Frieden will, muss bereit sein, mit seinen Todfeinden zu verhandeln, nicht nur mit seinen Freunden.
3) Schulen statt Bomben. Wenn die USA wenigstens ein paar Jahre lang auch nur die Hälfte der 30 bis 40 Milliarden Dollar, die die 30.000 zusätzlichen GIs kosten werden, für den Wiederaufbau Afghanistans und Pakistans zur Verfügung stellen würden, könnten sie die Herzen deren Völker doch noch gewinnen. Mit der einen Million Dollar, die ein einziger zusätzlicher GI pro Jahr kostet, kann man am Hindukusch 20 Schulen bauen. Ein mit Dollars beladener Esel kommt am Hindukusch weiter als jede Panzerarmee.
Den Abschluss des afghanischen Friedensprozesses, der zum Abzug aller Nato-Truppen aus Afghanistan in spätestens drei Jahren führen muss, könnten eine große Ratsversammlung (Loja Dschirga) oder freie Wahlen bilden. Zu beiden müssten auch die afghanischen Taliban zugelassen werden. Ihre Sprecher haben öffentlich erklärt, dass sie im Interesse der nationalen Aussöhnung bereit seien, deren Ergebnisse zu akzeptieren. Das ist bemerkenswert, da selbst Freunde der Taliban diesen bei Wahlen allenfalls 10 bis 20 Prozent zutrauen. Offenbar sehnen sich nach 30 Jahren Krieg selbst manche Taliban nach Frieden.