Vancouver. Stadt der höchsten Lebensqualität. Und Durchschnitt der Welt

Kanada gilt als Modell für vieles. Gelungene Integration. Intelligente Politik. Und Licht und Schatten. Und dass Vancouver nicht nur die Stadt mit der höchsten Lebensqualität ist, sondern auch die mit den größten Problemen, wird in dem Beitrag plastisch beschrieben:

Der Abgrund liegt gleich nebenan: „Das gilt besonders für die Downtown Eastside. Das zwei Quadratkilometer große Viertel ist das ärmste im Land. Eine Durchschnittsfamilie in Kanada verdient 42 000 kanadische Dollar im Jahr. Zwischen Water und Hastings Street sind es 12 000 Dollar. Mehr als 3 000 der 18 000 Bewohner des Viertels sind obdachlos. Fast ein Drittel von ihnen spritzt oder kokst.“

Archiv » 2010 » 06. Februar » Seite 3

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Die dunkle Seite von Vancouver

Die Olympiastadt gilt als Ort mit der höchsten Lebensqualität weltweit. Aber es gibt hier auch viel Armut und Not

Jörg Michel

VANCOUVER. Es ist früh am Morgen und Pam braucht dringend Cash. Die Nacht hat sie im Freien verbracht, in irgendeinem Park. In welchem, erinnert sie sich nicht mehr. Pam läuft die Water Street auf und ab. „Ich nehme auch Pennys“, bettelt sie. Die meisten Passanten laufen weiter. Viele haben einen Pappbecher mit Kaffee in der Hand. Nebenan dampft die berühmte Gasuhr. Sie zeigt acht. An den Straßenlaternen wehen farbige Wimpel mit olympischen Ringen. Am Ende der Straße steht Gassy Jack auf einem Fass aus Bronze. Das Denkmal ist feucht vom Regen der Nacht. Es glänzt wie frisch poliert.

Gassy Jack wacht über Gastown. Das ist ein Hafenviertel in der kanadischen Metropole Vancouver. Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Barkeeper hier seinen ersten Saloon eröffnet. Seitdem gilt Gassy Jack als der heimliche Gründer der Stadt. Einst lebten in dem Viertel Tagelöhner, Holzfäller und Minenarbeiter in billigen Hotels. Es gab Krawalle, Saufgelage, Schlägereien. Heute ist die Water Street ein Touristenquartier mit Straßencafés, Souvenirshops, Boutiquen. Jenseits der Flaniermeile aber sind Gastown und die benachbarte Downtown Eastside noch immer die Heimstätten der Gestrandeten.

Menschen wie Pam. Die 52-jährige ehemalige Lehrerin ist obdachlos. Ihr Ex-Freund hat sie in die Sache hineingezogen, sagt sie. Erst hat er sie verprügelt. Später hat er sie aus dem Apartment geschmissen. Seitdem tröstet sie sich mit Alkohol und Koks. Pam trägt eine schlabbrige Jogginghose. Die Kapuze ihres Pullis hat sie tief ins Gesicht gezogen. „Olympiade, was für eine Olympiade“, fragt sie. „Das ist was für die oberen Zehntausend. Ich bin doch ein Kind der Eastside.“

Nächste Woche beginnen in Vancouver die olympischen Winterspiele. Dann wird viel von den Superlativen der Stadt die Rede sein. Von der atemberaubenden Landschaft zwischen Pazifik und Küstenbergen. Von dem hohen Freizeitwert für Paddler, Angler und Skifahrer. Von der quirligen Kultur- und Gastronomieszene. Von der Lebensqualität. „Der beste Ort der Welt“ – werben Tourismusmanager. Der britische Economist kürte Vancouver unter 200 Metropolen sogar zur Stadt mit der höchsten Lebensqualität überhaupt.

Das Image Vancouvers als Traumziel am Pazifik ist die eine Realität. Es gibt noch eine andere: Vancouver ist Kanadas Hauptstadt der Obdachlosen, der Bandenkriege, der Aids-Toten. Als Tor zu Asien ist die Hafenstadt Hauptumschlagplatz für Drogen. 12 000 Menschen sind hier drogenabhängig. Nur in New York City wird mehr Heroin umgesetzt. Nirgendwo in Nordamerika infizieren sich die Menschen schneller mit HIV.

Das gilt besonders für die Downtown Eastside. Das zwei Quadratkilometer große Viertel ist das ärmste im Land. Eine Durchschnittsfamilie in Kanada verdient 42 000 kanadische Dollar im Jahr. Zwischen Water und Hastings Street sind es 12 000 Dollar. Mehr als 3 000 der 18 000 Bewohner des Viertels sind obdachlos. Fast ein Drittel von ihnen spritzt oder kokst.

Zu ihnen gehört Greg. Er hat einen roten Wuschelkopf und trägt eine schwarze Lederjacke. Sie ist zwei Nummern zu groß. Greg tritt in ein Klinkergebäude an der Hastings Street. Er will nicht sagen, woher er kommt und wie alt er ist. Er sieht sehr jung aus. An der Rezeption stehen zwei Plastikeimer. Einer mit frischen Spritzen. Einer mit Kondomen. Greg greift zweimal zu. Er geht ins Wartezimmer bis eine Schwester ruft: „Greg, bitte“. Er folgt ihr, hinter beiden schließt sich die Tür. Im Behandlungsraum wird sich Greg jetzt Heroin spritzen. Ein paar Minuten später kommt er wieder heraus. Seine Augen sind glasig. Er holt sich einen Kaffee, setzt sich in einen anderen Raum. Greg nennt ihn „Chill-Out-Lounge“. An der Wand hängen eine Box für gebrauchte Spritzen, ein vergilbter Kalender und ein Flatscreen. Greg schaut eine Weile zu, dann geht er auf die Straße – anschaffen.

Das Projekt „Insite“ ist einmalig in Kanada: Hier können sich Süchtige wie Greg unter Aufsicht von Medizinern Drogen spritzen. Sechshundert kommen jeden Tag vorbei. Im ersten Stock gibt es zwölf Zellen für Entziehungskuren. Sie sind ständig belegt. Jüngst hat das oberste Gericht der Provinz das Projekt gebilligt. „Wir vermeiden damit Überdosen und reduzieren die Ansteckungsgefahr mit HIV“, sagt Ann Livingston. Die Sozialhilfeempfängerin arbeitet als Freiwillige für eine Selbsthilfeorganisation von Drogenabhängigen. Sie sagt auch: „Seit der Olympiabewerbung ist für die Abhängigen vieles schlimmer geworden.“

Sie berichtet von Razzien und den Versuchen der Polizei, die Dealer und Obdachlosen aus dem Viertel zu vertreiben: Vor kurzem haben die Beamten binnen weniger Stunden 1 500 Platzverweise ausgestellt. Jeder Betroffene bekam einen Strafzettel von 110 Dollar. Wer nicht zahlen konnte, landete im Knast. „Es war der Versuch, das Viertel für die Spiele zu säubern“, meint Ann. Die Polizei bestreitet das. Sie spricht von Routine.

Und doch hat Olympia das Viertel verändert. Am Westende der Hastings Street hat ein Großinvestor Grundstücke gekauft. Geplant sind Luxus-Apartments. „Langfristig sollen wir hier rausgedrängt werden“, glaubt Ann. Zwei Parks, in denen Obdachlose übernachtet haben, wurden mit Beton zugepflastert. In frequentierten Häuserecken wurde Stacheldraht angebracht. Fassaden sind frisch gestrichen. Neuerdings gibt es Straßenschilder mit der Aufschrift: „Olympic Lane“. Zwei Fahrspuren sind allein für den Olympiaverkehr reserviert.

Viele Wettkampfstätten liegen nur ein paar Blocks von dem Problemviertel entfernt: Im BC-Stadium findet die Eröffnungsfeier statt. In der GM-Arena kämpft die kanadische Eishockeymannschaft um Gold. Im Canada Place an der Waterfront unten am Hafen sind Tausende Journalisten akkreditiert. Über eine Milliarde Dollar geben die Veranstalter allein für Sicherheit aus.

Für Wendy Pederson sind das die falschen Prioritäten. Sie trägt ein schwarzes T-Shirt, auf dem steht „Poverty Olympics“. Das heißt „Olympiade der Armut“. Wendy steht an der „Pill Corner“. So nennt sie die Ecke Hastings und Main Street. Hier werden synthetischen Drogen gehandelt. Auch an diesem Morgen. Immer wieder wechseln kleine Plastiktütchen und Dollarnoten flink die Hände. An der öffentlichen Toilette nebenan hängt ein Schild. Darauf steht: „Bitte nicht länger als fünf Minuten benutzen.“

Wendy ist Sozialarbeiterin. Sie lebt seit 15 Jahren in dem Viertel und arbeitet im Carnegie Center gegenüber. Das Gebäude des Selbsthilfevereins hat dicken Mauern und Türme. Es steht wie eine Trutzburg mitten in der Not. Hier lesen Bedürftige Zeitung. Sie spielen Schach im Gemeinschaftsraum. Sie kochen in der Suppenküche. Sie lernen Yoga.

Pederson sagt: „Für die Junkies und Obdachlosen haben die Spiele nur kosmetische Verbesserungen gebracht.“ Zwar stellt die Kommune Hunderte neue Notunterkünfte zur Verfügung, kauft Schritt für Schritt leere Wohnungen auf und will dafür Millionen von Dollar ausgeben, mit dem Ziel die Obdachlosigkeit bis 2015 zu beseitigen. Doch Pederson hält das für Augenwischerei. „Unser Sozialsystem ist kaputt. Kanada ist das einzige Land der G8 ohne ein nennenswertes Programm für sozialen Wohnungsbau.“

Ärger gibt es auch um das Olympische Dorf. Es steht am False Creek in einem Viertel südlich des Zentrums. Eine gute Wohnlage: Am Ufer des Flusses ist es grün. Die Bewohner haben einen Blick auf das Wasser, die schneebedeckten Gipfel der Coastal Mountains und die Skyline von Vancouver. Wenn die Sportler ausgezogen sind, sollen die Wohnungen verkauft werden.

Doch an wen? Erst wollte die Stadt zwei Drittel davon an Bedürftige geben. Dann ein Drittel. Doch selbst das ist nicht sicher. „Viele Gutverdiener sehen nicht ein, mit ihren Steuergeldern Sozialwohnungen mit Panoramablick zu finanzieren“, sagt Andrea Reimer. Die Stadträtin ist für die Partei der Grünen gewählt worden. Vor allem die Armen haben für sie gestimmt. Reimer hofft immer noch, Teile des Dorfes für Obdachlose zu sichern. Sie sagt aber auch: „Das wird sehr schwer. Die Wohnungsnot in Vancouver ist groß.“

Die Profiteure sind Billig-Hotels wie das „Balmoral“. Das siebenstöckige Gebäude ist ein paar Schritte von der Pills Corner entfernt. Der untere Teile der Fassade ist blau angestrichen. Am oberen Teil fehlt der Putz. An der Front hängt eine Reklamewand mit dem Hotelnamen. Die Buchstaben blättern ab. Die Uhr über dem Eingang steht ständig auf halb eins. Die gut fünfzig Zimmer werden vorzugsweise monatlich vermietet. Zehn Quadratmeter, Bad auf dem Flur. Manchmal mit doppelter Belegung. Einer schläft tagsüber, der andere nachts. Die Bewohner wollen ihre Zimmer nicht zeigen und ihre Namen nicht nennen. Sie befürchten, rausgeworfen zu werden.

„Die Hotels sind für viele die letzte Zuflucht. Hier landet man, wenn man sonst nirgends mehr unterkommt“, erklärt Wendy, die Sozialarbeiterin. 5 000 solcher Betten gibt es allein in der Eastside. Etwa 1 000 hat die Provinz nun gekauft, um den Anstieg der Mieten zu stoppen. Ein erster Fortschritt. Doch das reicht nicht. Noch vor ein paar Jahren waren die Zimmer für 150 Dollar im Monat zu bekommen. Heute kosten sie bis zu 600 Dollar. So viel erhält ein Sozialhilfeempfänger in British Columbia im Durchschnitt im Monat.

Und doch gibt es in der Downtown Eastside auch Profiteure der Spiele. Wenn auch nur kleine. Seann Dory und seine Leute gehören dazu. Seann betreibt auf der Hastings Street eine Recyclingstation. Die Schlange vor seinem Shop ist lang. Die Einkaufswägen sind voll. Viele Bedürftige verkaufen hier ihr letztes Hab und Gut. Und sie geben jeden Tag 50 000 Dosen, Milchkartons und Glasflaschen ab. Mit dem Gewinn verschafft Seann 150 Arbeitslosen einen Job. Von den Olympia-Veranstaltern bekommt er nun Geld für weitere Leute. Sie sollen die nächsten drei Wochen für fünf bis zehn Dollar pro Stunde an den Wettkampfstätten den Müll einsammeln. „Ich habe mehr Bewerber als Stellen“, sagt Seann.

Die Aktivisten der Drogenselbsthilfe um die Ecke dürfen sich auch über Olympia freuen. In ihrem Tagungsraum in der Main Street hängt seit ein paar Tagen ein nagelneuer Flachbildschirm. Eine junge Dame am Empfang berichtet: „Den hat ein Beamter vorbeigebracht. Er hat gesagt, er sei eine Spende der Stadt. Damit wir die Olympischen Spiele verfolgen können.“ Das Geschenk hat nur einen kleinen Haken: In dem Gebäude gibt es keinen Kabelanschluss.

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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