Versuch einer Neupositionierung von Bündnis 90/DIE GRÜNEN

Nach dem Scheitern der Ampel und dem Rückzug von Robert Habeck und Annalena Baerbock wurde immer wieder von einer Aufarbeitung des relativen Misserfolgs geredet. Passiert ist erstmal nichts. Dann hat die Böll-Stiftung ein Papier vorgestellt, das Schlußfolgerungen aus dem Scheitern von Bündnis 90/DIE GRÜNEN in der Ampel ziehen sollte. Eine erste Einschätzung dieses Papiers. Dann haben Franziska Brantner und Felix Banaszak einen Namensartikel in der FAS platziert, der ebenfalls mehr Fragen aufwirft als Perspektiven aufzeigt.

Ich möchte mit diesem Papier einen Impuls für die Selbstreflektion und Neuausrichtung von Bündnis 90/DIE GRÜNEN geben. Es ist ein Auftakt, nicht der Abschluss für eine Diskussion über die Rolle von Politik, speziell von Bündnis 90/DIE GRÜNEN in der Gesellschaft. 

Wie könnte eine Neupositionierung von Bündnis 90/DIE GRÜNEN aussehen? Und warum ist sie notwendig? 

Bündnis 90/Die Grünen ist die Partei, die über einen stabilen Wertekompass verfügt, die aber schneller als andere in der Lage ist, sich zu reflektieren, zu revidieren und Prioritäten, Strategien und Instrumente immer wieder neu anzupassen.

So ziehen wir die richtigen Schlüsse aus unseren Wahlergebnissen: 

Ein neuer Umgang mit den Rechtspopulisten der AfD

Wer nicht die Narrative der AfD “bedienen” will, muss sich mit den Ursachen des AfD Aufstiegs beschäftigen: Eine Politik, die Wahrnehmungen und Wünsche der Bevölkerung nicht ernst nimmt: Die ungesteuerte Zuwanderung und die damit verbundene Überforderung deutscher Verwaltungen, die Dominanz von Minderheits- und “kulturellen Themen”. Der hinhaltende Widerstand auch von Grünen gegen eine wirksame Eindämmung ungesteuerter Migration ist für uns ein wesentlicher Grund für den Verlust von Glaubwürdigkeit der etablierten Parteien. 

Die demokratischen Parteien der Mitte können nur mit den Grünen dauerhafte, belastbare und nachhaltig wirksame Lösungen finden

Es braucht eine starke grüne Partei als Kraft der Mitte, damit überhaupt die Chance besteht, in einer sich polarisierenden politischen Landschaft Deutschlands (aber auch “des Westens”) nachhaltig verändernde Politik zu realisieren.

Nie war die globale Situation fragiler denn heute. Die politischen Strukturen sind aber zu behäbig, um diese Herausforderungen zu bewältigen

Rückblickend kann man die erste Dekade des 21. Jahrhunderts als eine Abfolge unerwarteter, unerwünschter und weitreichender Ereignisse beschreiben. (Siehe Tabelle im Anhang). Die Wohlstandserzählung des Westens wurde fundamental erschüttert. Deutsche Politik hingegen wollte und will weiter suggerieren, die unaufgeforderte Dominanz des Westens, ein ungebrochenes Wohlstandsversprechen sei weiterhin möglich. Spätestens Trump hat dieser Erzählung ein Ende gesetzt. 

Eine nachhaltige Klimapolitik muss flexibel mit auf veränderte Rahmenbedingungen reagieren können

Klimapolitisch müssen wir erkennen, dass die ambitionierten Pläne, die wir Grüne, die Robert Habeck an der Spitze des Wirtschafts- und Klimaministeriums realisieren wollte, nicht gegriffen haben. Eine engagierte Klimapolitik lässt sich nicht gegen den offenen oder verdeckten Widerstand eines Koalitionspartners durchsetzen, eine engagierte Klimapolitik lässt sich nicht alleine mit engmaschig geführten Förderprogrammen realisieren, sie ist auf die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger, insbesondere auch auf die Mobilisierung privatwirtschaftlicher und finanzwirtschaftlicher Ressourcen angewiesen. Spätestens nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Umwidmung des Corona Sondervermögens hätte die Ampel innehalten und ihre Politik korrigieren müssen. 

Eine regelbasierte Außenpolitik muss Macht mobilisieren können, um sie umzusetzen. 

Auf dem internationalen Parkett wurden die Herausforderungen größer: Wir müssen erkennen, dass eine regelbasierte Außenpolitik davon abhängt, dass es eine globale Macht und Kraft gibt, die diese Regelbasierung gewährleistet. Spätestens mit der Wahl Donald Trump nimmt die USA diese Rolle nicht mehr ein. Deutschland muss in einem sehr heterogenen Europa eine stärkere und entschiedene Rolle einnehmen und die Wiederherstellung einer regelbasierten Weltordnung Schritt für Schritt, pragmatisch, durch neue und fragile Koalitionsbildungen und aufbauen. Plakatives Reden und öffentliches Eintreten für Menschenrechte sind Teil einer solchen Strategie, ihre Rolle definiert sich allerdings an den dadurch zu erzielenden Ergebnissen.

Soweit der Rückblick. Unsere Schlussfolgerung: Wir müssen die Welt, insbesondere die politische Welt, mit neuen Augen betrachten. Eine freiheitliche Gesellschaft lässt sich nicht planwirtschaftlich dirigieren. Politik kann lediglich Leitplanken setzen, innerhalb derer sich Lösungen entwickeln müssen. Und zu viele Regeln blockieren den Verkehr. Parteien können nicht für die Gesellschaft denken, sondern nur mit ihr. Und nicht zuletzt. In einer globalisierten Welt ist nationale Politik nicht so mächtig, wie es die etablierten Parteien suggerieren möchten. 

Dazu drei Anfangsimpulse:

Freiheit bedeutet Freiheit des Denkens und Handelns

Wir sind von der Überlegenheit einer politisch und wirtschaftlich freiheitlichen Gesellschaft überzeugt. Dies erfordert allerdings, dass die demokratischen Parteien der Mitte bereit sein müssen, ihre Rolle neu zu definieren. Politik definiert längst nicht mehr die Rahmenbedingungen einer geschlossenen Volkswirtschaft, sondern setzt Leitplanken oder Impulse für das Agieren einer Gesellschaft in einem globalen Rahmen. Gute Politik definiert sich nicht gegenüber anderen Parteien, sondern durch ihre Fähigkeit, die Kraft der Gesellschaft zu mobilisieren. Ein sinnvoller Wettbewerb der politischen Parteien bedeutet, die richtige Balance zwischen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und sozialem Ausgleich in einer Welt zu finden, die die klimapolitischen Herausforderungen nur gemeinsam lösen kann. Plakative, scheinradikale Positionierungen sind kein Lösungsbeitrag, sondern führen nur zu weiterer Polarisierung. 

Den Nationalismus grüner Klimapolitik überwinden

Die Klimaherausforderungen können nur global gelöst werden. Eine grüne Partei sollte diejenige Partei sein, der es gelingt, die jeweils richtigen Abwägungen zwischen ökologischen, ökonomischen und sozialen Fragen vorzunehmen. Auch hier gilt es, die Potentiale von Wirtschaft und Gesellschaft zu wecken, die immer neue Herausforderungen zu bewältigen.

Mehr Veränderungsfähigkeit wagen. Machen lassen anstatt alles selbst zu machen.

Das alles führt dazu, dass wir unsere Weltwahrnehmung und politische Prioritäten verändern müssen. Politik muss flexibler reagieren können. Koalitionsvereinbarungen von 160 Seiten, die ideologische Grundwahrheiten festschreiben, zementieren die Selbstblockaden heterogener werdender Koalitionen. Und sie fördern das Misstrauen der Bürgerinnen und Bürger gegenüber politischen Parteien. Wir brauchen größere Flexibilität, eine Politik mit Bürgerinnen, Bürger und “der Gesellschaft”, also auch der Wirtschaft. 

Nicht Politik gegeben Wirtschaft, sondern veränderungsbereite Wirtschaft, Grüne (und andere) für eine ladungsfähige Gesellschaft

 

Zur Begründung (Erläuterungen)

Breaking News: Die Geschäftsgrundlage ist weg!

Zwei Grundannahmen unserer Politik sind obsolet geworden: 

  • Der Wohlstand, das Wohlergehen der Gesellschaft stellt sich nicht von selbst ein
  • Nationale Politik setzt keinen Rahmen mehr, sondern agiert in vielfältigen Verflechtungen.

Die globale Welt, in die wir Deutsche mehr als andere eingebunden sind, ist ein komplexes System. Ein System, das regelmäßig von unerwarteten Erschütterungen herausgefordert ist. Diese Erschütterungen kann eine freie Gesellschaft nicht dadurch bewältigen, dass sie immer mehr scheinbare Macht im politischen Sektor ansiedelt, dieser Sektor aber zu kompliziert und vorrangig auf sich bezogen ist. 

Aus einer nationalen Perspektive betrachtet, 

  • weil immer längere Koalitionsvereinbarungen insbesondere Material ansammeln, das man im Laufe der Legislaturperiode gegen den Koalitionspartner in Stellung bringen kann,
  • weil Bund gegen Länder und Kommunen, Bund gegen Europa in einem offenen Ringen um mehr (symbolische) Macht verstrickt sind
  • Und die europäische Union mit vier weiteren Machtzentren, nämlich Parlament, Kommission, Ministerrat und Europäische Legislative die unterschiedlichen Interessen und divergierenden Wahrnehmungen von 27 Mitgliedstaaten Entscheidungen zusätzlich verzögert; -und Kraft der Apparate, bürokratisiert. 

Auf den Punkt gebracht: Die Dominanzbehauptung der Politik bei gleichzeitigem Verlust ihrer tatsächlichen Fähigkeit zur Umsetzung führt zu einer Selbstbeschäftigung des politischen Sektors und einer Blockade der Fähigkeit eines liberalen Gesellschaftsystems, Probleme zu lösen. 

Der Dominanzanspruch der Politik bei fehlender Lösungskompetenz führt zu einer Entfremdung “der Politik” von den Bürgerinnen und Bürger, die jenseits der Wahlen nicht in den politischen Prozess involviert sind, und im Alltag wahrnehmen, dass Politik jeder Coleur nicht das “liefert”, was sie behauptet. 

Durch diese Prozesse der Politisierung verlieren wir als liberale Gesellschaft (also einer Gesellschaft der “freien Gedanken” und freier wirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Tätigkeit) die Fähigkeit, aus uns selbst heraus Lösungen zu generieren. Aus politischer Perspektive heraus: Die Gesellschaft für die Realisierung von Lösungen zu mobilisieren. 

Das gilt für das Verhältnis der Politik zum unternehmerischen Bereich, aber auch für öffentliche Institutionen. Beispiele: Der Schulbereich, aber auch das Gesundheitswesen. (In beiden Fällen haben fachpolitische Forderungen nur noch sehr wenig mit der jeweiligen Realität zu tun).

Grundsätzlich gelten die oben gemachten Aussagen für alle demokratischen Parteien der Mitte. Sie müssen die Kraft zu mehr Gemeinsamkeit, mehr nachhaltiger, also über die Legislaturperioden hinausgehenden gemeinsamen Problemlösungen finden. 

Die besondere Stellung von Bündnis 90/DIE GRÜNEN

Die Grünen haben als “intellektuellste”, also zumindest historisch betrachtet, Debatten und reflektionsfreudigste der Parteien das größte Potential, diese Wende  einzuleiten. 

  • Nachzudenken über die veränderte Rolle von Politik im System. 
  • Nachzudenken über eine neue Rolle von Politik in der Gesellschaft. 
  • Nachzudenken darüber, wie sich Parteien verändern müssten, um nicht länger per Parteitagsbeschluss Grundsatzpositionen zu zementieren, die Lösungen blockieren, sondern einen Korridor eröffnen, in dem andere Akteure Lösungen schaffen können. 

Bei der Energiewende und Klimapolitik bedeutet das, insbesondere Unternehmen mehr Spielraum zu eröffnen, in der Gesundheitspolitik, indem man Verantwortlichkeiten für grössere Handlungsräume zuweist und kleinteilige Regulierungen beseitigt, in der Bildungspolitik, Schulen nicht einfach vorzuschreiben, WAS jede Schule WIE zu erbringen hat, sondern Ressourcen zur Verfügung zu stellen, die Schulen selbst „strukturieren“ und organisieren können, von der Auswahl der Lehrkräfte und der Personalstruktur über die “Binnenkultur” der Schule bis hin zu Schwerpunkten für Schülerinnen und Schüler spezifischer Zielgruppen.

„Die Selbstwirksamkeit der Gesellschaft stärken“, das wäre das Ziel. 

Im Umkehrschluss bedeutet das, die monopole Dominanz der politischen Parteien über die öffentliche Meinungsbildung aktiv aufzulösen anstatt sie schleichend zu verlieren. Die skizzierten Lösungsansätze sind noch nicht konkret, aber sie deuten eine andere Richtung der Lösung Findung an. 

Bündnis 90/DIE GRÜNEN: radikalpragmatisch!

Ein solches neues Denken hätte fundamentale Auswirkungen auf die Rolle von Parteien. Sie müssten sich öffnen, mit der Gesellschaft oszillieren, also sich austauschen, in Regierungen verständigen anstatt sich immer weiter zu isolieren. 

Anhang: Die größten Herausforderungen des 1. Quartals des 21. Jahrhunderts

Jahr Ereignis
2000 Platzen Dotcom  Blase
2001 Terroranschlag 9/11 New York
2007 Subprime Kredite
2008 Finanzkrise
2010 Euro Krise
2014 Putins Überfall auf die Krim
2015 Europäische Flüchtlingskrise
2017 Erste Regierungszeit Trump
2020 Corona
2022 Beginn Putins Ukrainekrieg
2023 Terroranschlag Hamas
2024 Syrien
2025 Zweite Regierungszeit Trump

 

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

Schreiben Sie einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden..