50 Jahre nach der großen Rede von Martin Luther King denkt das Handelsblatt jetzt darüber nach, warum es heute keine großen Redner mehr gibt. Eine Replik.
Nein, ich stimme nicht ein in das Gerede über die große Rede. Obwohl ich gute Reden schätze. Jetzt ist Martin Luther King dran, den real existierenden Politikern zu zeigen, dass sie wirklich schlechte Redner sind.
Sind sie aber nicht.
Nehmen wir Bestand auf:
Martin Luther King hat eine große Rede gehalten. „I had a dream“. Redet jemand auch noch über andere Reden? Nein? Na bitte.
John F. Kennedy, ein anderer großer Redner, hat einen großen Satz gesagt. „Ick bin ein Berliner“. Man konnte schon in der Berliner Zeitung nachlesen, dass das alles fast zufällig entstanden ist. Dass Kennedy das eigentlich nicht sagen wollte.
Was bleibt von Kennedy noch? Da schweigt des Sängers Höflichkeit.
Der dritte der großen Redner: Willy Brandt. Ja, mehr Demokratie wagen, guter Satz, gute Intonierung, der Kniefall von Moskau, die Ostverträge.
Willi Brandt gilt als hervorragender Redner. Ich erinnere mich aber auch an viele dahin geluschte Reden, ich weiß, wie bei Kennedy, um den prekären Gesundheitszustand.
Es wird Zeit, dass wir die Helden mal ein bißchen vom Sockel holen. Weil sie nämlich in ihrer Amtzeit nur ganz selten sockelreif waren. Und weil die großen Reden auch damit zu tun hatten, dass sie auf eine Erwartungshaltung trafen. „I had a dream“ war die Artikulation auf eine jahrhundertealte Unterdrückung, Kennedy war die Erlösung der Deutschen von ihrer Schuld und Willy Brandts Reden waren Ausdruck einer Erlösung von orientierungslos, ratlos, verängstigt, verschämt, verklemmt, unterdrückt hasserfüllter deutscher Erwartungshaltung. Weil Willi Brandt nach all den Verletzungen, Schmähungen, Denunzierungen eine so große, für alle spürbare Geste machen konnte, hat er, mit wenigen Reden, aber auch einer ganz anderen Haltung zu politischen Fragen, den Ostverträgen, Geschichte schreiben, besser, der Geschichte ihre Bilder geben können.
Das ist wichtig.
So, jetzt zu unseren angeblich schlechten Rednern. Die sind nämlich gar nicht so schlecht.
Angela Merkel, die viel geschmähte, kann nicht hervorragend, aber sehr punktgenau reden. Wenn man ihr mal eine halbe oder Dreiviertel Stunde zuhört. Dann spürt man, dass sie in der Wahrnehmung der Situation unserer Zeit STATE OF THE ART ist. Es gibt nichts, was sie nicht auf dem Schirm hat. Weil professionelle Verzerrung das Problem jedes Politikers ist, ein echter Akt.
Und Steinbrück? Der ist ein wirklich hervorragender, hanseatisch witziger, schlag- und angriffslustiger Redner. Auch, wenn das zwei Minuten Statement Format nicht seines ist. Guido Westerwelle war immer ein witzig schlagfertiger (Wahl)Kampfredner, hat dann aber erst spät begriffen, dass Außenministerdasein kein Attackenposition ist. Und um die Liste voll zu machen, auch Jürgen Trittin und Renate Künast konnten schon sehr gewinnende Reden halten. Nur halt nicht in diesem Wahlkampf.
Was heißt: Damit aus Reden Ikonen werden, müssen Redner, Situationsvorlauf und Rede zusammen passen. Ja, und da mangelt es bei uns nicht an Rednern, sondern an Situationen, die herausstechen. Wer Richard Münchs Kommunikationsgesellschaft gelesen hat, weiß, dass auch Kommunikation Konjunkturen hat. Und wir haben ein mediales Überangebot an Reden, wir sind gesättigt. Von Allem, also auch von Reden.
Ich finde ja, für überzeugende Politiker fehlen nicht die Reden, sondern die Haltung. Meine These: Menschen, dei scheinbar unpolitisch sind, was aber immer nur heißt, dass sie lautstark auf Politiker schimpfen, weil sie sich nicht beachtet fühlen in deren Reden, spüren sehr genau, wenn es jemand ernst meint „da oben“, ins Risiko geht. Oder abweicht von der Mainstream Norm. Das finden viele dann gut.
Der Beitrag im Handelsblatt:
Vom Verlust der großen Rede
„I have a dream“ – vor 50 Jahren veränderte Martin Luther Kings Vision vom Ende der Rassentrennung die Welt. Doch die Fähigkeit, mit Sprache und Tonalität zu begeistern, hat abgenommen – in Politik und Wirtschaft.
Jens Koenen, Christoph Schlautmann | Frankfurt, Düsseldorf | Dienstag, 27. August 2013, 20:00 Uhr
Diese Rede am Lincoln Memorial hat die Welt verändert: „Ich habe einen Traum“, rief Martin Luther King, Bürgerrechtler und Kopf der schwarzen Protestbewegung, den Massen vor 50 Jahren in Washington zu. Am heutigen Mittwoch will Barack Obama seiner Nation und der Welt am gleichen Ort eindrucksvoll zeigen, welche Kraft Kings Worte entfalteten. Denn dessen Traum ist wahr geworden: Ohne den charismatischen Bürgerrechtler wäre ein farbiger US-Präsident noch heute undenkbar.
Während die Gedenkrede Obamas den Amerikanern Tränen der Rührung in die Augen treiben wird, dürfte den Deutschen ihre rhetorische Armut schmerzlich bewusst werden. Große Redner, die wie Ernst Reuter („Völker der Welt, schaut auf diese Stadt“), Herbert Wehner, Franz Josef Strauß oder Willy Brandt auch hierzulande die Nachkriegszeit prägten, gibt es in der Bundesrepublik nicht mehr.
Fehlendes Redetalent ist auch ein Problem der Wirtschaft. Einst sorgten Chefs wie Alfred Herrhausen (Deutsche Bank) oder auch Ron Sommer (Telekom) für Prägnanz. Heute fehlen packende Redner. Dabei müssten Manager mit verständlichen Ansprachen die Öffentlichkeit überzeugen – doch ihre rhetorischen Qualitäten seien oft mangelhaft, sagt Berater Stefan Wachtel, der Dax-Manager auf Auftritte vorbereitet.
„Unseren Rednerpreis vergeben wir kaum noch“, sagt Peter Ditko, Leiter der Deutschen Rednerschule in Bonn. „Wir finden einfach keine geeigneten Kandidaten mehr.“ Ditko, der vor 35 Jahren mit Unterstützung von Strauß eine Rhetorikschule für Politiker gründete, ist frustriert: „Heute gibt es nur noch Berufspolitiker, die aus Angst vor Karrierefehlern kein Risiko in ihrer Wortwahl eingehen.“ Meinungsschlachten im Bundestag, in denen noch vor zehn Jahren Gerhard Schröder oder Joschka Fischer glänzten, sind Vergangenheit.
Für Soziologen wie Stephan Humer liegt die „Sprachlosigkeit“ auch an der Digitalisierung: „Sie verändert die Sprache.“ Soziale Netzwerke wie Twitter oder Facebook ersetzen geschliffene Reden mit Kürzeln und Smileys.
Dietmar Till, der den 1963 für Walter Jens gegründeten Rhetorik-Lehrstuhl in Tübingen innehat, verweist auf die „umfassende kommunikative Überwachung“. Mit jedem Handy können Äußerungen mitgeschnitten werden, die sich binnen Sekunden im Internet verbreiten. Junge Politiker können sich, so Till, „nicht mehr freischwimmen“. Folge: Ihre Aussagen „wirken formelhaft und inhaltsleer“.
Es gibt Rhetoriktrainer, die in der Malaise auf eine geniale Idee kommen: Sie lassen Martin Luther Kings Rede nachsprechen.
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