Das Bundesministerium für Gesundheit hat eine Studie bestellt und erhalten: Chancen und Risiken von Gesundheits-Apps (CHARISMHA); Albrecht, U.-V. (Hrsg.), Medizinische Hochschule Hannover, 2016. urn:nbn:de:gbv:084-16040811153. http://www.digibib.tu-bs.de/?docid=00060000
Das Problem: Die über 100.000 € teure Studie dokumentiert den desolaten Zustand deutscher eHealth-Forschung. Es wird im Weiteren noch darüber zu reden sein. Zu welchen Aussagen sich die Studie versteigt, lässt sich an einem einzigen Kapitel dokumentieren, dem Teil 8.1.1. „Die vertrauenswürdige App erkennen“.
Es geht also um Ratschläge, die die „Digital Health-Experten“ Laien geben, bevor sie sich in die Hände digitaler Medien begeben.
Ich zitiere:
„8.1.1 Die vertrauenswürdige App erkennen
Zur Identifikation von vertrauenswürdigen und qualitativ hochwertigen Angeboten sollten Nutzerinnen und Nutzer auf unterschiedliche Punkte achten. Bereits vor der Installation einer App müssen sie erkennen können, wer für die App verantwortlich zeichnet und welche Funktionalitäten sie beinhaltet. Dabei sollten auch die Grenzen der Anwendung deutlich gemacht werde. Eine App sollte nur dann verwendet werden, wenn sie erkennbar aktuell ist. Die Qualität der in der App bereitgestellten Informationen kann u.a. anhand der Qualifikation der Hersteller eingeschätzt werden. Nur, wenn ersichtlich ist, dass eine App durch qualifizierte Personen nach dem Stand der Technik und der Medizin umgesetzt worden ist, sollte ihr vertraut werden. Nutzer müssen außerdem sicher sein, dass die App für ihren Anwendungszeck und für sie als Zielgruppe konzipiert worden ist (Albrecht, Noll und von Jan 2015, Yasini und Marchand 2015, Voas 2003, Ben et al. 2010).
In Bezug auf Gesundheits-Apps ist besonders das Vorhandensein einer vollständigen Datenschutzerklärung wichtig. Diese sollte den Nutzer in verständlicher Sprache über das Datenverarbeitungs- verhalten der App informieren. Kritisch hinterfragen sollte der Anwender auch die eingeforderten Zugriffsrechte einer App. Sobald eine App mehr Zugriff verlangt als notwendig erscheint, sollte von einer Verwendung abgesehen werden. Apps, die aufgrund ihrer Funktionen und der Beschreibung durch den Hersteller eine eindeutige medizinische Zweckbestimmung haben und somit als Medizinprodukt zu betrachten sind, aber nicht als ein solches gekennzeichnet sind, sollten nicht verwendet werden.
Vorhandene Qualitätssiegel können ebenfalls für die Qualität einer App sprechen, wenn die zu Grunde liegende Prüfmethode validiert ist. Gleiches gilt für Studien, die unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Standards durchgeführt worden sind. Häufig werden Apps durch andere Nutzer bewertet und das Ergebnis der Bewertungen in den App-Stores dargestellt. Diese Bewertungen können als erste Einschätzung der Qualität dienen, sollten aber die persönliche Einschätzung nicht maßgeblich beeinflussen.“
Und jetzt noch einmal in Listenform, was ein Nutzer berücksichtigen sollte, bevor er eine App benutzt:
- Verantwortlichkeit für die App (Wer ist der Hersteller?)
- Funktionalitäten der App (Was kann sie?)
- Grenzen der App verstehen
- Aktualität
- Qualifikation der Hersteller, technisch und medizinisch qualifiziert.
- Sicherstellung, dass man selbst die richtige Zielgruppe ist
- Datenschutzerklärung nach Nutzung der Daten durchforsten
- Überprüfung, ob App Medizinprodukt sein sollte
- Qualitätsiegel berücksichtigen, aber Prüfmethode validieren
- Bewertung anderer Nutzer überprüfen
Aber: so die abschließende Empfehlung, Nutzer sollte die eigene Bewertung nicht von dem vorliegenden Material beeinflussen lassen.
Geht’s noch?
Im Grunde haben die „eHealth-Forscher“ ihre eigene Konzept- und Kompetenzlosigkeit vor aller Öffentlichkeit zum Besten gegeben.
Warum?
Die Ansammlung grundsätzlicher, abstrakter Grundsätze und moralischer Appelle auf der einen Seite, die etwas „banale“ Bemerkung, man solle sich von all den aufgezählten Kriterien auf der anderen Seite aber nicht beeinflussen lassen, ist tautologisch und absurd.
Viel schlimmer aber wiegt, dass durch diese Aufzählung grundsätzlicher und empirieloser Potentialfaktoren die Nutzerinnen und Nutzer entmündigt werden.
Die eigentliche Botschaft dieser wissenschaftlichen Empfehlungen ist also: Kinder, ich benutze absichtlich diese Formulierung, Kinder, lasst die Finger von Gesundheitsapps, bis wir uns die Kompetenz erarbeitet haben, zu wissen, was für den Durchschnitt der Nutzerinnen und Nutzer den tatsächlich von Nutzen ist.
Gut, dass 40 Mio. Bürger, die sich Gesundheitsinformationen im Internet besorgen, darauf keine Rücksicht nehmen.
Diese Denkhaltung bedeutet Entmündigung der Verbraucher. Es geht darum, im öffentlichen Raum Definitionshoheit zu erlangen und dazu die notwendigen Mittel aus öffentlichen Kassen zu akquirieren.
Gut, dass niemand sich an solche „Expertenratschläge“ hält! Hoffentlich auch nicht die Politik.
Wer vom hohen Ross von „Wissenschaftlichkeit“ herabsteigt und tatsächlich an einer systematischen Steigerung und Bewertung von App-Leistungen interessiert ist, muss sich auf sein Forschungsgebiet einlassen, sich mit dem Ökosystem der Entscheidungen rund um die App-Nutzung beschäftigen und so erst einmal ein Bild davon erhalten, wie die Entscheidungen tatsächlich fallen.
Er könnte feststellen:
- Einscheidungsstrukturen sind abhängig von der jeweiligen App und dem damit zusammengehörenden Anwendungsfall.
- Nutzer entscheiden sehr wohl kompetent. Viele der Apps entstehen aus persönlicher Betroffenheit. Ihrer Weiterempfehlung ist eng verbunden mit einer Themenkompetenz der Entwickler und Nutzer.
- Eine App zum Zeitpunkt x ist eine andere App als zum Zeitpunkt y, weil Nutzer-Rückmeldungen ständig in die Weiterentwicklung einfließen. Eine App ist nicht fertig, wenn sie auf den Markt kommt, sondern ist startklar, dann kann sie auf den Markt kommen und weiterentwickelt werden.
- Die oftmals angeführte Schwankung von Meßwerten ist in der Praxis ein Phantom. Menschen, die keine Messwerte zur Verfügung haben, sind in sehr viel höherem Maße einem Risiko ausgesetzt als Personen, die möglicherweise von einem falschen Meßwert beunruhigt sind (und zum Arzt gehen). Oder eben nicht zum Arzt gehen, aber dann wäre die Vergleichsgruppe für den „Gefahr, Gefahr“-Schrei eben die völlig unbegleiteten Patienten. Aber auf solche „Feinheiten“ rekurriert die Studie eben nicht.
Was Deutschland aktuell also braucht, sind flexible, qualitätsverbesserende, multifaktorielle und auf verschiedenste Werkzeuge zurückgreifende Beurteilungskonzepte. Die Frage einheitlicher Qualitätssiegel dagegen ist nicht vorrangig! Es geht um Ergebnisverbesserung im laufenden Betrieb. Es geht um ein partizipatives und differenziertes Forschungsparadigma.
Deutschland ist das Schlusslicht der Digitalisierung im Gesundheitsbereich.
In vielen anderen Ländern, Kanada, Niederlande, Skandinavien, USA hat sich längst eine eHealth-spezifische Forschungslandschaft mit eigenen Messkonzepten und -verfahren ausgebildet. Auch in Deutschland gibt es junge Wissenschaftler, die sich seit Jahren intensiv damit beschäftigen, was Patienten im Internet zum Thema suchen. Dr. Alexander Schachinger, EPATIENT RSD, ist einer von ihnen. Er stellt in diesem Jahr (am 3.5.2016) den 5. ePatient Survey vor. Mit seinem Digitalen Marktreport Deutschland bildet er seit 3 Jahren die deutsche eHealth-Entwicklung ab. Marktkompetenz statt Institutseminenz ist gefragt!
Die Hannoveraner Forscher tun der jungen Startup-Kultur in Sachen Gesundheit keinen Gefallen. Die Skandalisierung mag der Forschung öffentliche Gelder zutreiben. Wenn aber der Forschungsgegenstand verhungert oder die Forscher mit guten Gründen lieber ins Ausland abwandern, sollte uns das doch zu denken geben.
Der Forschungsgegenstand, so habe ich in meinem sozialwisssenschaftlichen Studium gelernt, verändert sich, wenn er erforscht wird. Man kann auch befürchten, er wird totgeforscht!