MIt dem Projekt „True Lies“ haben sich das Institut für europäische Politik und das Progressive Zentrum einer großen und notwendigen Aufgabe zugewandt. Alleine, der Tenor der Rede von Staatssekretär Michael Roth und der Verlauf der Podiumsdiskussion lässt befürchten, dass zu wenig tief gegraben wird, um dem Rechtspopulismus das Wasser abzugraben. Ich habe hier versucht, die Perspektive eines sich selbst verantwortlich machenden Europas zu skizzieren.
Darin sind wir uns einig: Europa ist das Gemeinsame der Unterschiedlichen. Und das Ganze, die Länder, die Völker, sollen sich kennenlernen und zusammenwachsen.
Ich meine: Das wird dauern. Und das ist auch ok so.
Was ich kritisiere, ist, die immergleiche Wiederholdung folgender, “proeuropäischer” Gedanken:
- Es gibt nur die Alternative “mehr” oder “weniger” Europa.
- Nur mit mehr Europa kann man die Probleme Europas lösen.
- Europa ist ein Hort der Freiheit.
- Freizügigkeit und Grenzenlosigkeit sind etwas Schönes und Gutes.
- Man muss den Menschen Europa nur gut erklären. Dann wird das schon.
Das stimmt so nicht.
Ich halte mit folgenden Thesen dagegen:
- Bei Prozess der “Öffnung der Länder” zu einem gemeinsamen Europa gibt es in jedem Land Gewinner und Verlierer.
- Der Weg der Öffnung Europas (und der Globalisierung) kann unter den richtigen Rahmenbedingungen zu einem Wohlstandszuwachs in den eher schlechter entwickelten Ländern führen. In den gut entwickelten Ländern führt es maximal zur Sicherung von Wohlstand.
- Die Europäische Öffnung findet in einem Umfeld der Globalisierung statt, in der die westlichen Nationen unter verstärktem Wettbewerbsdruck stehen.
- Der Arbeitsmarkt vieler der eher unterentwickelten Länder steht unter einem doppelten Druck, da Arbeitsplätze nicht nur zuwandern, sondern auch international weiter abwandern.
- Ökonomisch hängt die Frage, wann Marktöffnung für welches der entwickelten oder weniger entwickelten Länder zu mehr oder weniger Wohlstand führt, mindestens von folgenden Fragen ab:
- Der Balance der Arbeitsmärkte vor dem Hintergrund der globalen und europäischen Wirtschaftsentwicklung
- Der Flexibilität der Arbeitsmärkte (nur wenn es nicht zu Abschottungen von Teilarbeitsmärkten, z.B. im öffentlichen Dienst für bestehende Arbeitsverhältnisse gibt sondern ein gleichmäßiger Anreiz für bessere Leistungen da ist, “verarbeiten” die nationalen Gesellschaften diese Entwicklungen positiv).
- Der politische Governance, sprich, ob die einzelnen Länder eine stabile, das richtige Maß von politischen Kontroversen und innerem Zusammenhalt ausbilden können, der für ein “gutes Staatswesen” notwendig ist. Andernfalls führt die Entwicklung zu Korruption und Cliquenwirtschaft.
Europa weißt vor diesem Hintergrund eine sehr durchwachsene Bilanz auf:
- Positiv ist, dass es unter den europäischen Ländern keinen Krieg mehr gibt. Die Tendenz zum Aufbau nationaler Feindbilder hat abgenommen.
- Unter den Vorzeichen erhöhter Massenmobilität (Tourismus), von audiovisuellen Medien, aber auch von Aktivitäten wie dem Erasmusprogramm findet eine verstärkte gegenseitige Wahrnehmung statt. Das unterstützt das Zusammenwachsen.
Eher differenziert bis skeptisch sind die politischen Strukturen zu beurteilen.
- Der Prozess der Zuweisung finanzieller Mittel zur Entwicklung ist sehr ambivalent zu betrachten.
- Grundsätzlich führen die Mittel oft nicht zu den erwünschten Ergebnissen
- Über Mißerfolge und das Schweitern (Lissabon-Strategie) wird nicht offen geredet und auch keine offenen Diskussionen geführt.
- Die nicht zu kontrollierende Mittelvergabe führt in Ländern mit schlechter Governance zu wachsender Korruption.
- Die Einführung einer neuen Ebene “Europa” führt dazu, dass Länder mit schlechteren Ergebnissen zu mehr Mittelzuweisungen führen.
- Nur unter den Vorzeichen von “Good Governance” führen erhöhte Mittel zu einer Steigerung der Leistungsfähigkeit Europas.
Ich beobachte darüber hinaus:
- Unter Politikern in allen Ländern lässt sich eine Tendenz beobachten, “unangenehme Wahrheiten” hinsichlich eines Mißverhältnisses von Konsum und Leistungsfähigkeit zu leugnen und die notwendigen Strukturanpassungen zu verschieben.
- Das hat inzwischen zu einem “Klumpenrisiko” geführt.
- Aus Sorge vor konjunkturellen Einbrüchen hat die EZB längst eine politische Rolle übernommen.
- Diese Rolle ist, die Volkswirtschaften mit genügend Liquidität auszustatten, damit keine konjunkturellen Einbrüche stattfinden.
- Diese “Ersatzpolitik” hat aber ebenfalls nicht zu einer Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit Europas geführt.
- Stattdessen werden schwere Eingriffe in den Prozess von Ressourcenzuweisungen vorgenommen.
- In der Folge „kostenloser“ Investitionsmittel finden keine Marktbereinigungen mehr statt.
- Das ökonomische Klumpenrisiko steigt weiter.
- Politik ist damit zum Teil des Problems geworden, das es zu lösen vorgibt.
Vor dem Hintergrund mangelnder Verantwortungsfähigkeit übernationaler Institutionen wird auch eine stärkere “Demokratisierung”, sprich, Aufwertung des Europäischen Parlamentes, nicht zu einem demokratischeren Europa führen. Es wird zu einem Europa führen, in dem eine weitere Institution versucht, über Budgethoheit Verhandlungsmasse für sich selbst zu sichern. Ohne echte europäische Öffentlichkeit wird dieses Bestreben aber zu einer weiteren Selbstblockade und Selbstverweigerung der europäischen Länder führen, die notwendigen ökonomischen Leistungsverbesserungen einzuleiten.
Die Einführung des Euros ohne die politische Durchgriffskraft, wenn entsprechende Leistungssteigerungen nicht vorhanden sind, hat die Lage zusätzlich kompliziert und die Lösung des Problems, aus einem Zusammenschluß von Nationen zu einem politischen Gebilde politisch eher erschwert statt erleichtert.
Dies alles führt zu folgender Schlußfolgerung:
Europa kann weiterhin eine positive Perspektive bieten, wenn es gelingt, Verantwortung für verbesserte Leistungen auf nationale Ebene zurück zu führen und wenn die nationalen politischen Eliten diese Aufgabe, mit allen seinen Schwierigkeiten, akzeptieren.
Leistungsverbesserungen können sein:
- Abbau von Privilegien für soziale Gruppen (Angestellte Öffentlicher Dienst, etablierte Arbeitsverhältnisse)
- Steigerung der Leistungsfähigkeit in naturwissenschaftlichen und ingenieurswissenschaftlichen Bereichen, die zu externer Wertschöpfung führen (Exportorientierung durch Know-How-Vorsprung).
Die Frage von Freiheit, Meinungsfreiheit, Reisefreiheit und Freiheit der Berufswahl ist nur diesem Hintergrund immer in Relation zum sozialen Zusammenhalt und der (ökonomischen) Zufriedenheit der Bevölkerung zu diskutieren.
Es besteht die Gefahr, dass sich “das europäische Projekt” zu einem Projekt der akademisch Gebildeten entwickelt. Die notwendigen Schritte der Öffnung und des Wandels werden dann durch kulturell und sozial ausgegrenzte (oder sich als ausgegrenzt erlebende) Gruppen und Bewegungen blockiert. Das führt, wenngleich gegen den erklärten Willen der Akteure zu einer echten Klassenherrschaft akademisch gebildeter Kreise.
Erst wenn die Artikulation von “weniger Europa” durch authentische Vertreter der nichtakademischen Gruppen sichtbar wird und von den akademischen Europaverfechtern akzeptiert wird, wird das zu einer Entspannung der Debatten führen und neonazistischem Populismus und offenem Rechtsradikalismus keinen weiteren Nährboden bieten.