Warum GIOVANNI DI LORENZO mit seiner europäischen Ratlosigkeit Recht hat. Eine Antwort.

Was für ein Elend, diese Europawahlen. Die Plakate, die Botschaften, die Versprechen. Politische Blütenträume, die schon am Tag danach verwelken.

Die Pro-Europäer beharren auf Beschwörungsformeln, die sie mantrahaft wiederholen. Europa ist besser als Krieg.
Die Europa-Enthusiasten beschreiben Nationalität als Schimäre. Sie sei durch europäische Identität zu ersetzen.
Die Linken, die SPD und Teile der Grünen stellen sich Europa wie eine erweiterte europäische Arbeitsagentur vor: Gerechtigkeit für alle von Bratislava bis Bordeaux.

Die Bürger trauen diesen politischen Hochgesängen nicht.
Sie sehen nächtelange Sitzungen und nichts kommt dabei heraus.
Sie sehen unscheinbare Politiker, die irgendwie irrelevante Sätze sagen und das wars.
Sie sehen Politiker, die für alles eine Lösung haben, aber sie verstehen nicht, wofür das eine Lösung sein soll.
Sie hören von Spitzenkandidaten und lesen (vielleicht), dass diese sich um nichts streiten.

Der Brüsseler Alltag ist graues Niemandsland, nationales Geschachere mit Europaneusprech. Unter dem Tisch, gibst du mir, so gebe ich dir. Über dem Tisch das Reden von den blühenden Landschaften. Am Tisch graue Gestalten.

Es ist nicht die Aufgabe von Wählern, aus diesem Nebeneinander ein Bild zu machen, das ist die Aufgabe der Politiker. Aber die haben nicht geliefert.

Deswegen kommen jetzt die Populisten rein.
Und das ist auch gut so.

Europa wird nur stark werden, wenn die Realität mit am Tisch sitzt. Und die ist, dass sich viele von den (wie es in der Zeit immer so schön heisst) Zeitläuften überrollt sehen. Verunsicherung greift um sich, die Politik redet aber immer nur: Alles wird gut.

Den Unmut daran formulieren die Populisten und viele fühlen sich erstmals kulturell angesprochen.

Jetzt müssen sich die Proeuropäer was einfallen lassen. Jeder von ihnen braucht eine Haltung.

Mir geht es wie Di Lorenzo. Ich fühle, wenngleich mit provinziellen Wurzeln, auch als Europäer. Aber ich weiss, dass ich eigentlich nur die deutsche Politik und Gesellschaft gut beurteilen kann. Und ich mag deswegen vieles an Deutschland und den Deutschen. Auch wenn ich neugierig darauf bin, wie andere Länder funktionieren, was man von ihnen lernen kann.

Ein Europa starker Nationen
Ich glaube nicht, dass Europa die 25 Prozent der spanischen Jugend retten kann, die ohne Arbeit sind, indem sie Hilfsprogramme startet. Erst muss die spanische Politik, die spanische Gesellschaft den Hintern hochkriegen, das Problem strukturell zu lösen. Indem sie denen, die in Arbeit sind und geschützt sind, ihre Privilegien wegnimmt. Das führt aber zu Konflikten, die die spanische Politik gerne wegreden möchte. Oder, wie geschehen, durch Immobilienprogramme (Grüß Gott, Amerika) überdecken wollte.

Über Frankreich will ich gar nicht reden, das kommt davon, wenn eine „Elite“ aus Politik und Wirtschaft miteinander zur Schule gegangen ist und sich gegen den Rest der Gesellschaft verbündet hat. Das ist Oligarchie, französisch illuminiert.

Über Italien schweigen wir lieber ganz….. Obwohl wir dieses Land lieben.

Die erstaulichste Entwicklung hat doch Polen gemacht. „Die Polen“ zu anfangs gerüttelt und geschüttelt von Rechtspopulisten aller Art, wissen, was Freiheit ist. Und sie haben sie unternehmerisch genutzt.

Auch die Spanier, lese ich, sind grundsätzlich nicht antieuropäisch. Aber enttäuscht von ihrer politischen und ökonomischen Elite.

Und wir Deutschen? Der kranke Mann Europas hat deswegen Karriere gemacht, weil ein Gerhard Schröder, mit dem Rücken zur Wand, einfach Reisleine gezogen hat, ausländisches Kapital nach Deutschland gelassen hat, Pfründe geschleift hat (auch soziale Tatbestände, die im Überbietungswettbewerb des politischen Nachkriegsdeutschland entstanden sind) und die Ungerechtigkeit der Welt ein Stückweit in unser Land gelassen hat.

Schön ist das nicht, es hat ihm auch den politischen Kopf gekostet, die Kampfgenossen von früher, mit Münte als Ausnahme scheuen die Bekenntnis zur unschönen Reform wie der Teufel das Weihwasser.

Europa wird nur dann stark werden, wenn jede der Nationen selbst Verantwortung dafür übernimmt, wie sie als Nation stark werden kann.

Im europäischen Verbund.

So ist die Lage.

Ein Europa, in der Politik bereit ist, zu scheitern
Europa wird nur Europa werden, wenn die nationalen Politiker ihre nationale Verantwortung übernehmen, Haltung zeigen und Führung übernehmen. Auch wenn sie daran scheitern können.

Europa wird nur europäisch werden, wenn die nationalen Interessen und die nationalen Unterschiede, auch kulturellen Unterschiede sichtbar und zur Stärke werden. Niemand will effiziente deutsche Italiener. Europa ist eine Zugewinnsgemeinschaft. Erfolgreich kann sie nur werden, wenn alle Teile mehr leisten, nicht wenn Politiker über eine neue Ebene mehr verteilen.

Ein Europa, bei dem aus Gegen ein Für erwächst
Und Europa wird nur europäisch werden, wenn die Europäer selbst aktiv werden.

Das TTIP Abkommen halte ich für eine solche Chance. Es wird immer diffus von den Vorteilen geredet, die niemand so genau benennt. Ja klar, könnte man Zölle abbauen und Handelsgrenzen einreisen. Aber ist das wirklich das bedeutendste Projekt, das der Westen derzeit zu bieten hat. Nein, und der Reflex vieler ist richtig, dass es nicht sein kann, dass Institutionen einfach so ausgehebelt werden, durch Geheimverhandlungen, durch Schiedsgerichte.

Und TTIP kann ein Zeichen des Selbstbewusstseins der Europäer werden. Wenn es uns ernst ist mit den Bürgerrechten, dann müssen wir den Amerikanern (und der feigen europäischen Politik) ein Nein abtrotzen, um in Sachen NSA ernst genommen zu werden.

Dann wird Europa zu einem gemeinsamen europäischen Projekt, auf das auch Europäer stolz sein können.

Dann wird in Europa eine europäische Zivilgesellschaft entstehen, die lernt, über Sprachen und Nationen hinaus gemeinsame Interessen zu artikulieren und durchzusetzen.

Dann wird Europa europäisch und lebendig. Aber nicht von heute auf Morgen.

ich bin deshalb optimistisch, weil die Medien bei dieser Wahl viel besser und offener und neugieriger über andere Länder und über die EU berichtet haben.

Das wird schon mit Europa. Aber nur, wenn der politische Überschwang, dieses leere Heilsgerede verschwindet. Wenn die Politiker in Europa den Mumm haben, ihren Wählern zu sagen, dass sie das Paradies nicht schaffen können.

Sondern dass wir alle gemeinsam, wir Deutschen, Franzosen, Polen, Briten und alle anderen gemeinsam an einer guten Zukunft arbeiten müssen.

Auch wenn wir, wie so oft, nicht wissen, wie das am Ende aussieht.

Ich bin mir sicher, dass sich viele Deutsche, wie andere Europäer, offen gegenüber anderen Ländern und Kulturen sind. Aber sie müssen sie erst kennenlernen und verstehen. Sie müssen, wenn sie eingewandert sind, erst gesagt bekommen, dass das auch bedeutet, dass diese Menschen Deutschland verändern. In diesem Sinne hatte Christian Wulff Recht, wenn er sagte, der Islam gehört zu Deutschland. Auch wenn das die Deutschen fünfzig Jahre ignorieren wollten. Wir müssen uns dann aber auch Gedanken machen, wie bei aller Unterschiede das Gemeinsame erwachsen kann. Ernsthaft und ehrlich. Dann wird es schon werden. Schritt für Schritt.

Der ZEIT Leitartikel

EUROPAWAHL

Mehr Leidenschaft!

Warum fällt es Menschen, die Europa lieben, so schwer,
sich auch für die Politik des Kontinents zu erwärmen?

VON GIOVANNI DI LORENZO

Ich kenne fast nur Menschen, die sich von Herzen als Europäer verstehen. Auch wenn sie sich noch so häufig jenseits der Grenzen dieses Kontinents aufhalten – Europa ist für sie eine identitätsstiftende Vielfalt von Ländern, Sprachen und Landschaften. Es ist die permanente Präsenz von Geschichte, Kunst und Kultur. Es ist schließlich auch eine zivilisatorische Klammer, die sich die meisten europäischen Länder inzwischen gegeben haben, nach Jahrhunderten der Kriege und Konflikte.

Mein eigenes Leben spiegelt im ganz Kleinen die dunkle Seite unserer Vergangenheit genauso wider wie die großen Veränderungen der Nachkriegszeit. Meine Mutter, eine gebürtige Königsbergerin, hat ihre Heimat an Russland verloren. Sie hat in Schottland meinen italienischen Vater geheiratet, ihre Söhne brachte sie in Stockholm zur Welt. Seit 2003 besitze ich einen deutschen und einen italienischen Pass. Als ich klein war, gab es zwischen Deutschland und Italien nicht nur gut bewachte Grenzen. Man fuhr eine Zeit lang über den Brenner mit angehaltenem Atem. Damals versuchten Südtiroler Separatisten, sich mit Attentaten von Italien loszusagen.

Aber auch mir geht es wie den meisten begeisterten Europäern, die ich kenne: Vor den Europawahlen kommt nicht mal ein Anflug von Leidenschaft auf. Man geht, wenn überhaupt, aus Pflichtgefühl zur Wahl. Wenn es am kommenden Sonntag bei der Beteiligung bliebe, die es vor fünf Jahren gab (was schon ein Erfolg wäre), dann würden in Deutschland nur 43 Prozent der Wahlberechtigten abstimmen. Das würde bedeuten: Eine möglicherweise siegreiche Union nähme bei zum Beispiel 38 Prozent der Stimmen ihren Auftrag von gerade einmal 16 Prozent der Wahlberechtigten entgegen – von den anderen Parteien ganz zu schweigen. Die Spitzenkandidaten der christdemokratischen und sozialdemokratischen Parteien, Jean-Claude Juncker und Martin Schulz, sind laut ZDF-

Politbarometer

nur 15 beziehungsweise 27 Prozent der Wähler ein Begriff.

Am Sonntag dürfte es vor allem
einen Wahlsieger geben: Die AfD

Viele befinden sich also in einem verstörenden Dilemma: Sie kennen und lieben Europa, nicht aber das, was dem Kontinent institutionellen Halt, wirtschaftliche Macht und politisches Gewicht geben müsste. Wie kann das sein? Und wie kommt man aus diesem Zwiespalt heraus?

Nun ist ein rationales, nüchternes Verhältnis zu Institutionen noch kein Fehler – ganz im Gegenteil. Das Problem des EU-Parlaments und der Brüsseler Bürokratie ist, dass sie nicht nur wenig Zuspruch mobilisieren können, sondern auf der anderen Seite sehr viel Gefühl, nur eben negatives: Skepsis, Ablehnung, Hass. Die Summe aller populistischen und europafeindlichen Mandate dürfte nach dieser Wahl so hoch sein wie noch nie. Das allein ist destabilisierend genug, aber setzt erst in Verbindung mit dem resignierten Desinteresse der anderen Wähler Europa und seinen Institutionen gewaltig zu.

Sowohl für Distanziertheit als auch für blanke Ablehnung gibt es in jedem Land unterschiedliche und meist innenpolitische Ursachen. In Südeuropa sind es die krasse wirtschaftliche Not, die Menschen zu Europagegnern werden lässt, und die große Versuchung, für hausgemachte Fehler Brüssel zum Sündenbock zu machen. In Deutschland ist es ein bestürzend defensiver Wahlkampf, bei dem stets anklingt, dass Europa im Grunde ein Patient ist, der wirklich nicht mehr gut aussieht. Anders kann man zum Beispiel den CSU-Slogan »Für ein besseres Europa« nicht verstehen. Was fehlt, ist die Erörterung der großen Fragen – und der großen Chancen.

Wie wollen wir mit den Migrationswellen umgehen? Was soll die EU Moskau in der Ukrainekrise entgegensetzen? Brauchen wir nicht in Zukunft ein besonders starkes Europa, um als 500-Millionen-Kontinent eine leidlich erfolgreiche Interessenspolitik gegenüber Russland, China und den Vereinigten Staaten zu betreiben? Wie gefährlich ist es, wenn Deutschland mit bis zu 500 Milliarden Euro für Not leidende Länder haftet? Antworten dringen jedenfalls zum Wähler nicht durch.

Kein Wunder, dass es am Sonntag wahrscheinlich einen Wahlsieger geben wird, der von CDU und SPD bislang eher kleingeredet worden ist: die europakritische Alternative für Deutschland (AfD); sie könnte sogar ein zweistelliges Ergebnis einfahren. Alle Versuche, diese politische Gruppierung als das Werk von Spinnern oder verkappten Rechtsradikalen darzustellen, werden dann fehlgeschlagen sein. Denn es sind nicht vornehmlich die Rechten, die wirtschaftlich Abgehängten, wie in Südeuropa, oder die üblichen Querulanten, die sich von dieser neuen populistischen Kraft angezogen fühlen. Es ist, zu einem großen Teil jedenfalls, jener konservative Teil der politischen Mitte, der sich in keiner Weise mehr vertreten fühlt. Es sind Ängste und Vorbehalte, denen sich die großen Parteien stellen sollten: Wenn in der Mitte der Gesellschaft unangenehme Fragen auftauchen, müssen sie auch in der politischen Mitte beantwortet werden. Sonst macht man die AfD stark.

Frieden, Freiheit und Wohlstand, das Fundament der EU, sind noch heute von unschätzbarem Wert. Aber sie taugen nicht mehr allein, um für den Gedanken der Europäischen Union zu werben. Hier helfen nur beherztes Argumentieren, Furchtlosigkeit gegenüber den realen Problemen und gelegentlich eine Spur von Leidenschaft für die Idee. Es braucht bei Europawahlen auch keine Begeisterung aufzukommen, es reichte schon, wenn man hin und wieder daran erinnert würde, dass Europa Probleme hat, aber mehr ist als nur ein Problem.

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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