Gestern abend, Europadiskussion an der Bucerius School, veranstaltet vom der John Stuart Mill Stiftung. Günther Verheugen als Keynote Speaker. Gut: Das sachliche Abwägen, der Versuch, Bilder nebeneinander zu legen, abzugleichen, das eigene Bild zu verbessern. Auch John Stuart Mill kann da nichts dran ändern. Er denkt Politik zu traditionell.
Schlecht, wenn man in einer Diskussion den Eindruck gewinnt, irgendwo ist da schon was dran, aber sich keine richtige, zündende Erklärung daraus ergibt.
Will ich mal dran basteln:
Wer kennt schon die EU?
Wenn man den Subtext der Debatte analysiert, baut sich ein Bild der europäischen Zivilgesellschaft auf, bei dem so getan wird, als ob alle um einen Tisch sitzen, die Pros und Contras, etwa vom Habermas Zwei Kammer Modell abwägen würden, und sich so als Citoyens beweisen.
Seien wir doch mal ehrlich. Auch ich kann die Rechte und Pflichten der europäischen Institutionen nur schemenhaft definieren. Für mich reicht, dass die Staaatschefs am Ende entweder den Daumen heben oder senken.
Und dann: Es gibt noch nicht einmal eine europäische Öffentlichkeit, sehen wir von den Beruflobbyisten und Stifungsbeauftragten ab. Die Institutionen beschäftigen sich selbst. Und auf das ganze Geschehen schauen Deutsche (Die Übereuropäer), Italiener, Polen und Portugiesen aus ganz unterschiedlichen nationalen Blickwinkeln. In ganz unterschiedlichen Medien. Und reden darüber in unterschiedlichen Sprachen. EIN Wahlvolk sieht anders aus.
Das Ganze, also Europa, muss erst wachsen, also das Verständnis für die andere Tradition, den anderen Blickwinkel auf Europa.
So ist das mit der Spitzenkandidaten und Kommissionspräsidentennummer dann auch eine schwierig zu entscheidende Nummer: Der Egotrip zweier Hinterzimmereurokraten, von denen der eine kurzzeitig zum Partizipationsfan geworden ist, der andere sich treu geblieben ist und der Wunsch des Parlaments, Macht zu kriegen. Oder, wie Habermas meint, ein erster echter Schritt zu einer Demokratisierung Europas.
Aber interessiert das die Menschen wirklich? Ist das, wie Habermas meint, tatsächlich DIE entscheidende Frage, an der sich klärt, ob Europa politisch ist? Oder sehen das nur die Deutschen so? (Vielleicht auch, weil Schulz Deutscher ist).
Anders gefragt: Soll man den europäischen Politikzirkus ernst nehmen oder nicht? Und: Wie sehen das die Deutschen, die Franzosen, die Italiener, die Polen, die Bulgarier?
Das Bild der Politik von der Politik: Die Agora
Die Agora, das ist ja noch immer das Bild deutscher Politiker, Publizisten und zivilorganistorischen Aktivisten. Wir setzen uns an einen Tisch und reden. Die Interessen bleiben draußen. Seit neunundachzig heißt das immer auch Runder Tisch. Alles so schön friedlich hier.
Das ist natürlich Quatsch. Die Interessen bleiben nicht draußen, sondern werden unter dem Tisch mitverhandelt. Und manche sitzen auch gar nicht mit am Tisch.
Auch wenn ich dieses Bild der friedlich freundlichen Agora natürlich auch liebe (das waren die schöneren Seiten meines Latein- und Griechisch-Unterrichts), es ist einfach nicht mehr zeitgemäß.
Das zeigt sich dann, wenn die Wahlerfolge von Le Pen und den anderen rechten Populisten verhandelt werden.
Das bleibt beim Wähler: Enttäuschte Erwartung
Ich beschreibe das mal so:
Die Wahlergebnisse werden alle auf der falschen Ebene interpretiert. Die meisten Menschen interessieren sich nicht für Politik. Politisches Verhalten sickert also bei ihnen intuitiv ein. Es geht also nicht darum, was in den Programmen steht. Es geht nicht darum, was in den Talkshows geredet wird, inhaltlich. Sondern, ob die Wählerinnen und Wähler einen „Vertrauensanker“ werfen können.
Beim Europagerede der Europabefürworter können sie keinen Anker werfen. Das Gerede, zu verkopft. Und das Bild, das sie malen, ist zu lieblich, als dass es zu ihren Erfahrungen passen würde.
Die meisten Menschen sind keine Antieuropäer. Sie haben nur die Schnauze voll vom Schöngerede. Sie erleben, und das über Jahre, dass ihnen die Politik immer blühende Landschaften verspricht. Tatsächlich wird es aber für sie selber schwieriger. Oder sie erwarten immer weiter, dass es für sie schwieriger werden könnte.
Wahlen sind Richtungsentscheidungen. Wenn es nachvollziehbare Richtungen gibt. Wenn das nicht der Fall ist, kann man Dampf ablassen.
Und weil die meisten bei Europa ohnehin nicht verstehen, worum es geht, kann man da richtig Dampf ablassen.
Insofern geht es bei den Wahlen nicht darum, ob jemand das richtige Konzept hat. Sondern, ob er Vertrauen gewinnen kann. Können die etablierten Parteien das nicht, werden andere gewählt. Wenn es gut geht wie bei den Grünen, können sich die Anderen etablieren.
Im anderen Fall verschwinden sie wieder.
Herrschaftstheoretisch betrachtet geht es darum, die Zahl destruktiver Politikgegner klein zu halten. Dann ist es erst mal ok. Angela Merkel, die Handwerkerin, hat uns gezeigt, wie das geht. Ball flach halten, ins Lager des Gegners einbrechen (asymetische Demobilisierung), Vertrauen durch Nichtversprechen schaffen.
Wenn wir das Bild von der Agora wieder bemühen, ist das allerdings glatte Antidemokratie. Es ist Machttechnokratie.
Der langfristige, andauernde Prozess, der dieser bereits seit langem anhaltenden Politikentfremdung zugrundeliegt, wird in der Politik und der politischen Wissenschaft weitgehend geleugnet. Es gibt keine Nachfrage für dieses Statement. Weil alle, die daran mitwirken, ein Interesse haben, das unter dem Tisch zu lassen.
Auf einen Punkt gebracht: Die Eurobefürworter reden mehr oder weniger das gleiche beschwörende, unverständliche und unrealistische Zeug von Europa.
Dazu kommt, dass sie inzwischen auch noch alle in derselben Sprache darüber sprechen.
Die Priesterherrschaft der Intellektuellen (Schelsky)
Es ist Klassenherrschaft, das sich auch im aktuellen Parlament zeigt. Studium der politischen Wissenschaften, Engagement in der Jugendorganisation einer Partei, Mitarbeiter in einem der Parlamente, später selbst Abgeordnete(r), das ist der Highway zur politischen Karriere. Parteiübergreifend.
Wer sich mal mit etwas Distanz politische Talkshows anhört, weiß, was ich meine. Wenn jemand mal Dampf ablassen will, ist das eine Partizipationsfrage, da stürzen sich all die studierten Politikexperten drauf, die das Leben von Menschen mit einfachem Bildungsabschluß (aber übrigens auch das technischer Experten) nur aus Romanen und dem Trashfernsehen kennen.
Die Fortsetzung der Klassenherrschaft das sind auch die Protestbewegungen, das haben die Untersuchungen über die Zusammensetzung von Protestbewegungen von Franz Walter gezeigt. Gesinnungsethische Bildungsbürger ohne Macht opponieren gegen verantwortungsehtische Bildungsbürger mit Macht.
Gemeinsam entschweben sie den Menschen, die einfach arbeiten und leben wollen.
Und so verstärken sich Mittelfristtrends: Argumentativ, weil die Politik ständig Heilung verspricht, aber die Situation (in Deutschland: die subjektive Situation) von Menschen mit mittleren und niedrigen Bildungsabschlüssen prekärer werden, die Einkommen sinken. Und kulturell, weil Politik auch immer mehr in einer nicht verständlichen Sprache über politische Anliegen spricht, selbst wenn sie vorgibt, immer mehr Menschen einbeziehen zu wollen. Das ist fatal, weil die meisten Menschen eben nur gut regiert werden wollen. Dafür wird Politik ja auch bezahlt.
(In den Unternehmen stellen sich Arbeitnehmer ohnehin ganz nüchtern auf, das ist ja der große Standortvorteil der Deutschen: Intuitiv nehmen die Menschen schon wahr, dass wir uns in einer Umbruchsituation befinden).
Was Politik kann und nicht kann
Das Emotionale in der Politik wird sträflich missachtet. Besonders bei allen linken Parteien und den Grünen, die alle ganz stolz auf ihre Konzepte sind.
Das Ganze wird dann unter dem Schlagwort Politikverdrossenheit verhandelt. In Wirklichkeit ist das intuitives Politikverstehen. Globalisierung, offene Märkte, Umbruch gefährdet Arbeitsplätze und Lebenswelten. Dagegen hat niemand, wie wir sehen, auch die französische Politik nicht, Rezepte. Politik hat darauf zu achten, dass sich Unternehmen und Bürger auf offene Märkte, Globalisierung, Umbruch einstellen. Dann kann sie manche Verwerfungen abfedern. Aber sie kann das alles nicht ungeschehen machen.
Aber das traut sie sich nicht zu sagen.
Die Politik hat sich auf der politischen Bühne längst von der Realität verabschiedet. Sie ist in einen hoffnungslosen Versprechenswettbewerb gestartet, der in regelmäßiger Enttäuschung enden muss. Wie stark die Amplituden ausschlagen, hängt von den Rahmenbedingungen ab, Wirtschaftsentwicklung, Wettbewerbsfähigkeit, etc.
Darüber redet niemand. Nur darüber, warum das mal stärker, mal schwächer ausschlägt. Ich nenne das strategisches Politikversagen. Da hängt nicht nur die Politik mit drin, sondern auch die Medien, die NGOs. Und auch die Wissenschaft.
Man will ja im Geschäft bleiben.