Warum „Welcome Refugees“ eben keine abschließende politische Perspektive ist. Anmerkungen zu @joergrupp
4. Oktober 2015 von Nikolaus
Mein lieber Jörg,
ich stimme Dir zu, wenn Du schreibst, dass die Geschichte derzeit wie ein D-Zug an einem vorbeirast. Fünfundzwanzig Jahre Deutsche Einheit, die feindliche Übernahme des durch den an seiner eigenen Saft- und Kraftlosigkeit krepierenden Osten (meine Lehre: Die Selbstüberschätzung der Politik, das ist mein, „NIE WIEDER“) durch den Westen, die Integration von unsichtbaren Migranten, die dann gescheitert sind, wenn sie gedacht haben, wir sind doch alle Deutsche. Aber wir hatten nur eine gemeinsame Sprache, aber längst ein anderes Denken.
Wie ruppig es nach 89 im Osten zuging, kannst Du in Richters 89/90 nachlesen. Es ist schockierend, auch wenn es, teilweise, lustig daher kommt. Aber es ist real. Denn wenn Menschen der Boden unter den Füßen weggezogen wird, dann wird es ernst.
Im Osten mussten Sie schon einmal komplett mit dem Verlust eines Weltbildes zurecht kommen. Im Westen ist uns diese Situation bisher erspart geblieben. Selbst eine kleine Korrektur wie die Öffnung der deutschen Wirtschaft auf Weltniveau, Hartz IV, das viel mehr war (mit allen Verwerfungen, die damit notwendig waren, aber die letztlich doch erfolgreich waren) wird von den Autoren, Rot und Grün, irgendwie verschwiemelt abgelehnt. Weil sie es doch gerne konsensuell gemacht hätten. Aber die Welt ist keine Nachkriegswelt mehr, in der die Gleichungen aufgehen, sondern es ist eine Welt, in der nach oben strebende Weltmächte, China, Indien, Südafrika, Brasilien, mit manchmal korrupten autoritären Systemen und ebenso (oder noch mehr) korrupten demokratischen Systemen ihren Platz bei der Nutzung der Ressourcen einfordern und in der der Westen sich behaupten muss. Mit seinen Werten, ja, und damit, dass er seine Vormachtstellung auf der Welt einfordert (nicht der American Way, High Noon, Revolver ziehen und los, sondern als Vorbild) und den Übergang, andere Länder, Kontinente, Systeme partizipieren zu lassen, maximal moderieren zu können.
So ist die Lage.
Und deswegen ist eine Angela Merkel, die pragmatisch erkennt, was notwendig ist (Gesprächsbereitschaft auf Weltniveau) und die demgegenüber Innenpolitisk schleifen, bzw die SPD machen lässt, Gold wert.
Weil sie verstanden hat, dass eine Rolle Deutschlands auf Weltebene notwendig ist. Und weil sie, in aller Ernsthaftigkeit, daran arbeitet, die Rolle Deutschlands in der Welt (mit menschlichem Antlitz, so zynisch und blöde du das findest) ernst zu nehmen, genauso ernst, wie die Tatsache, dass die Geschäftsgrundlage der westlichen Demokratie nicht der herrschaftsfreie Diskurs von Habermas ist, sondern, erst kommt das Fressen, dann die Moral, die Zufriedenheit der Menschen mit ihrer ökonomischen Lage.
Ich stimme Dir zu, wir kommen in eine sehr raue Wetterlage. Die Bilder, mit denen wir bisher gearbeitet haben, passen nicht mehr. Weil mit der Flüchtlingsfrage unwiderruflich und alternativlos ein Thema nach Deutschland einsickert, das sich nicht von selbst auflöst.
Die Aufnahme vieler Flüchtlinge in einem hochindustriellen, hochkomplexen Deutschland, in dem man nicht einfach sein kann und sein Ding machen kann (indem man seine Arbeitskraft anbietet, notfalls eben billiger als andere), sondern in dem man kaserniert wird und dann eben ein politisches Problem wird, ist nicht ganz so einfach und konfliktlos, wie Du meinst.
Menschen haben Angst. Und auch in Deutschland gibt es viele Menschen, ich weiss, das sind nicht die Grünwähler, schon wegen des hohen Einkommens, die Angst haben. Diese Angst wird von rechten Kräften geschürt. Die spüren, dass das ihre Chance ist.
Auch, wenn es richtig ist, den rechten Rand im Auge zu behalten. Die entscheidende Frage wird sein, wie die Mitte der Gesellschaft mit der Frage der Einwanderung, mit der Frage, dass nichts mehr so sein wird wie vorher (weil wir eben nicht wissen, wie viele kommen werden, 800.000, eine Million, zwei Millionen???), weil die Flüchtlingsfrage auch davon abhängig ist, ob man, und irgendwie braucht man dazu auch Putin, eine Lösung findet für Syrien (und ich sage nicht, dass es unbedingt gut gehen muss mit Putin, dass er die Falschen bombardieren lässt, deutet eher darauf hin, dass es nicht so ist).
Ich stimme Dir zu, die Schicht ist dünn. Das Zeitalter der uneingeschränkten Herrschaft des Westens geht, trotz der technologischen Revolution, die gerade stattfindet, zu Ende. Jetzt geht es darum, ein echtes Selbstbewußtsein des Westens zu entwickeln, das zeigt, dass Demokratie auch dann funktioniert, wenn man nicht dauernd mehr Geld verteilen kann, sondern wenn es darum geht, Kraft aus der Mitte der Gesellschaft zu mobilisieren, Kraft dafür, Privilegien über Bord zu werfen, besser zu werden, für sich und die Gesellschaft ein neues Rollenbild zu finden, mit dem sich die Gesellschaft besser behaupten kann und mit dem wir uns identifizieren können.
Vor diesem Hintergrund finde ich es gut und richtig, dass es Menschen wie Dich gibt, die sofort immer Alarm rufen, wenn irgend eine rechte Dumpfbacke Stunk macht. Aber vor diesem Hintergrund, meine ich, solltest Du auch darüber nachdenken, dass, nur wenn es den Grünen gelingt, über ihr bisheriges Klientel der staatsanah arbeitenden Erzieher, Ärzte, Pädagogen, Soziologen, Politologen, Juristen hinaus sich ernsthaft gegenüber Ingenieuren, Naturwissenschaftlern, Wirtschaft zu öffnen, sie eine zukunftsfähige, belastbare, tatsächliche Lösungen entwickelnde (und nicht nur an einzelnen Werten wie Asylrecht festklammernden Balken) Gesellschaft mitgestalten werden. Und nicht nur als nervende, am Rand stehende, an Klageweiber erinnernde, rechthaberische, aber doch zu eingeschränkt auf die Welt sehende linksintellektuelle, ihre eigene ökonomische Lage leugnende und immer ins Volle appellierende Rolle einzunehmen.
Die Welt ist im Umbruch. Und das ganz brutal. Und unser Wunsch nach Harmonie, nach Ausgleich, den ich ja durchaus mit Dir teile, wird die Welt nicht besser machen. Vorrangig, meine ich, ist es, mal einen Blick auf das ganze Szenario zu werfen.
Vor diesem Hintergrund ist eine Politik, wie es Grüne in ihren Regierungsbeteiligungen in den Ländern machen, Gold wert. Es führt dazu, dass sie verstehen, was der Handlungskorridor ist. Und deswegen steht auch die grüne Bundespolitik, Cem würde ich da mal ausnehmen, nackt da. Sie rettet sich in ihre alten Befindlichkeiten des Anprangerns und Appellierens und lässt nicht erkennen, dass sie verstanden hat, dass die Grünen, nach ihrem paradigmatischen Sieg, Gramsci würde von politisch-kultureller Hegemonie sprechen, längst anders wahrgenommen werden und, vor dem Hintergrund ihrer Wählerschaft und ihrer potentiellen Unterstützer, nämlich aller, die veränderungsbereit sind, eine andere Haltung einnehmen müssten.
Deswegen: Ja, Winfried macht es richtig, weil er darauf achtet, dass der Umgang mit den Flüchtlingen auch gemanagt werden muss. und weil er sich da nicht irgendwie durchmogelt, sondern darüber redet. Eine Veränderung der Perspektive ist immer schmerzhaft. Aber im Falle der Grünen ist sie eben notwendig, wenn sie weiter die Vordenker und -macher eines veränderungsbereiten linksliberalen, weltoffenen Spektrums von Menschen sein wollen, die wissen, dass sich die Welt ändern muss, aber sich auch bewußt sind, dass der Weg zur richtigen Lösung ein „Work in Progress“ ist und nicht mit billigen Parolen wie mehr Partizipation (funktioniert nämlich nicht immer), „mehr Politik wagen“ alleine zu meistern ist.
Die neue Ansage ist, die besseren Lösungen zu finden, neugierig zu bleiben, wachsam ja, aber auch mutig. Und auch Fehler zu machen. Und sein Weltbild zu korrigieren.