Es war ein ganz besinnlicher Abend, gestern in der Böllstiftung. Viel Nachdenklichkeit und Tasten im Bühnenprogramm. Grosse Erkenntnisse waren nicht zu erwarten. Eher geht es darum, dass sich die Zuhörer, jeder selber, sortiert. Soweit zur Bühne.
Mein „maior finding“ war etwas anderes. Es war ein rastalockiger junger Grüner, der mit der Betroffenenmimik und -gestik formulierte, dass ja auch der neueste Klimabericht wieder gezeigt hat, dass wir überhaupt keine Zeit mehr haben und deswegen dringend etwas tun müssen. Dieser junge Grüne ist ein Teil des Problems. Es ist das Problem der Papiergläubigkeit der Grünen und des grünen Umfeldes. Ein paar Überlegungen dazu.
1) Wir haben keine Zeit, diesen Spruch hören und sagen wir seit dreißig Jahren, das hat etwas geändert, aber wir haben noch nicht verstanden, was eigentlich genau.
2) Man kann auch sagen, wenn man ertrinkt, hat es keinen Sinn, die Kraft zu verdoppeln. Entscheidend ist, dass man das Ufer sieht und sich dann seine Kraft einteilt. Das Problem ist aber im Moment, dass man das Ufer noch gar nicht sehen kann.
3) Das mit der Wissenschaftlichkeit hat ja auch schon Helmut Schelsky formuliert: Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und die Priesterherrschaft der Intellektuellen. 1985 ist das geschrieben und wenn man es heute aufmerksam liest, muss man sagen, der Mann hatte in vielen Punkten recht. Er hat beschrieben, wie diejenigen, die ihre Beschreibung von der Welt durchsetzen, die Welt beherrschen. So kann man also auch mit der Rede von der Partizipatorischen Gesellschaft eine faktische Klassenherrschaft der Wissensarbeiter durchsetzen. Das klingt böswillig, soll aber selbstkritisch gedacht sein. Ich halte es ja mit dem Terminus der „Reflexiven Modernisierung“. Die bedeutet in diesem Fall, dass die reflektierte Klassenherrschaft bedeutet, dass man weitere soziale Gruppen in sein Umfeld integriert. Höflicher formuliert ist es die hegemoniale Kraft, die von den Grünen ausgeht. Und wie man sie erweitert.
4) Kommen wir auf die Wissenschaftlichkeit zurück. Die ist, darauf hat der Philosoph Markus Gabriel „Warum es die Welt nicht gibt“ hingewiesen. Wissenschaftlichkeit ist längst zu einem Fetisch geworden.
5) Reden wir einmal über Malthus. Wir alle kennen die Geschichte, dass er für die Zukunft Londons prophezeit hat, sie würde im Pferdemist ersticken. Ist sie nicht, weil das Auto erfunden wurde, jetzt erstickt die Stadt.
Wir lachen über Malthus. Aber im Grunde ist das Wissenschaftsmodell, auch das Wissenschaftsmodell des kritischen Rationalismus, eines, das in ebenso simplen Ursache-Wirkungsmodellen verhaftet ist. Aber Realität ist anders.
Wahrscheinlich stimmt das schon, dass, wenn wir so weiter machen, der Wasserpegel weiter steigt. Aber mehr Alarmismus bringt aus vielen Gründen nichts: Erstens kann Deutschland die Welt und den Wasserspiegel nicht retten. Globale Entwicklung ist multifaktoriell und im Grunde weiß man gar nicht, was wie wirkt. Man kann sich nur entscheiden, sich dem verpflichtet fühlen, was man für sich selber für verantwortbar halt. Abwägung also. Das hat was mit Rückrat zu tun, das hat was damit zu tun, dass man Dinge macht, die richtig sind. Das hat aber auch damit zu tun, dass man seine Rolle reflektiert.
Also: Was müssen Grüne heute tun, um mehr Menschen in eine grüne Erzählung der Welt zu integrieren?
Und hier schließt sich der reflexive Kreis: Wir sind, das habe ich in meinem früheren Beitrag zur grünen Erzählung geschrieben, in Deutschland in einer dritten Phase. Nach „Politik ist nix“ und dem nach 68er „Politik ist alles“ geht es jetzt darum, dass sich die Gesellschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft wieder ihr Mitspracherecht in der Gesellschaft zurückholt. Und dass aufgeklärte Politik begreift, dass man eine marktwirtschaftliche Gesellschaft nicht vom grünen Tisch aus (oder aus den Erkenntnissen eines wissenschaftlichen Gutachtens heraus) ändert, sondern in Dialektik mit ihr (nicht immer im Dialog übrigens). Die Frage ist dann also, was tut sich in der Gesellschaft.
In Deutschland (aber auch nur in Deutschland) sind der Klimaschutz und die Energiewende hegemonial geworden. Ingenieure und auch Betriebswirtschaftler wissen sehr wohl, dass sich auch mit nachhaltigen Produkten Geld verdienen. Auch wenn die Rettung der Welt nicht nur mit besseren Produkten retten lässt. Dass sich auch mit Klimaschutz Geld verdienen lässt. Nur hilft das mantraförmige Wiederholen dieses Gedankens nichts. Und mehr Förderung und Subventionen richtet manchmal mehr Schaden an. Man kann nicht alles immer fördern (oder nicht immer), man muss es kanalisieren und hinsehen, was sich entwickelt. Mehr Ordnungspolitik und Mittelfristigkeit. Wer zuviel steuert, hat bald, wie in der Gesundheitspolitik, alles an der Backe. Und es bewegt sich dann nur noch etwas, wenn es bezahlt wird. Das nennen wir dann Planwirtschaft. Und die ist ja bekanntlich gescheitert.
Es gibt also keine einfache Lösung, es gibt keine einfache grüne Erzählung. Es geht eher darum, dort, wo es am dringendsten ist, die grüne Erzählung weiter zu schreiben.
Und hier einige der Ansatzpunkte dafür:
Führung braucht Vertrauen. Vertrauen hat man, wenn sich Politiker vorne dran stellen und signalisieren, dass sie Überblick haben. Was in unserem Fall auch heißt, dass sie darüber Überblick haben, wie wenig sie wissen.
Der Unterschied zwischen Agenda und Erzählung ausbuchstabieren. Vielleicht müsste man unterscheiden zwischen einer grünen Erzählung (die öffentliche Arena grüner Politik) und die grüne Agenda (die politisch-administrative und instrumentelle Ebene grüner Politik). Bei letzterer geht es darum, zu scannen, was an instrumentellen Ideen zur Verfügung steht und was man, um das zu nutzen, über den Haufen werfen muss (Das Buch von Fücks), aber auch, wie wir Politik und die politische Arena verändern müssen (Das Buch von Schick, Machtwirtschaft), also das Eingeständnis, dass unser wirtschaftspolitisches Denken auf tönernen Füßen steht und dass das grüne zivilgesellschaftliche Paradimga dringend auf Europa und die Welt auszuweiten ist. Mehr Europa wird nicht über mehr institutionelles Europa zu erreichen sein, es braucht das Zusammenwachsen der europäischen Völker.
Das Ende des instrumentellen Weltbildes. Und schließlich geht es darum, und deshalb empfehle ich immer Schelsky und den Gabriel Titel „Warum es die Welt nicht gibt“, sein eigenes Weltbild zu reflektieren und darüber nachzudenken, dass andere Menschen auch anders denken und wahrnehmen dürfen. Dass also nicht mehr passiert, wenn ständig alle mit einem schlechten Gewissen wegen der steigenden Wasserpegel rumrennen, sondern es besser ist, wenn man darauf achtet, neue Erfindungen auch auszuprobieren, Vorschläge aus der Gesellschaft aufzugreifen, auch zu akzeptieren, dass wir auch nicht politisch korrekter sind (auch nicht mit dem Guten Leben), sondern letztlich nur korrekter reden (und gleichzeitig fette SUVs fahren; – manche auf jeden Fall).
Das Risiko unserer bisherigen Gesellschaftserzählung ist, dass es eine heile Scheinwelt etabliert hat, das die Deutungshoheit auf der politischen Bühne erreiht hat. Die Menschen, ob in Neukölln, Bottrop oder anderswo, sehen das anders. Die Wahrnehmung der verschiedenen gesellschaftlichen Wirklichkeiten und das Nachdenken darüber, wie man diese unterschiedlichen Wirklichkeiten in eine grüne Erzählung integrieren kann, das ist die wichtigste Aufgabe grüner Politik. Es geht um nicht weniger, als zu verstehen, was Politik tun kann, wenn ihre direkte Gestaltungsmacht verloren hat und in der Gefahr ist, sich auf Symbolpolitik zu reduzieren.