Der Westen, Demokratie, Nation, Europa. Wenn eine Idee auf die Wirklichkeit trifft.
Es könnte ja so schön sein. Deutschland hat sich in seinem Premium-Wunschbild eingerichtet. Wir sind weltoffen, wir sind dialogbereit, wir sind kompromißfähig. Und wir können, so scheint es bisher, alles, was wir anfassen. Nie war im politischen Bereich mehr Konsens als heute: Energiewende: Machen wir! Rechte für Minderheiten: Machen wir! Integration: Machen wir! Europa selbstlos führen: Machen wir! Das Gute in die Welt tragen: Machen wir!
Und doch, so zeigt der Blick in die Blätterwelt, gibt es Risse in der Fassade: Jürgen Habermas zeigt sich im Handelsblatt-Interview erfreut über Angela Merkel, weil sie das erste Mal normativ handelt. Ok, Habermas ist der Erfinder des linksliberalen Idealismus, der sich immer freut, wenn sich Politik von ihrem ökonomischen Unterbau löst. Was für eine alberne Vorstellung, ist etwa so, als ob sich ein Autofahrer freuen würde, wenn das Auto auch lenkbar ist, wenn der Motor mal ausfällt. Traurig ist, dass die gesamte Weltwahrnehmung der idealistischen Linken von Grün über Rot und Tiefrot auf diesem Paradigma aufsetzt. Geht es nicht darum, den politischen Korridor, die politischen Prioritäten unter den Vorzeichen der ökonomischen Dynamik zu erkennen?
Und weiter. Die FAZ beschäftigt sich mit dem Showdown in Afghanistan. Die humanitären, gut begründeten Interventionen der Deutschen, Nationbuilding, was für ein schönes Wort, alles richtig. Und doch, muss man heute sagen, hat es nicht richtig funktioniert.
Konsequenzen?
Und dann: In der FAZ beschäftigt sich Verfassungsrichter Peter Huber mit der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik. Er konstatiert eine Erosion des normativen Gerüsts. Richtig, aber was tun wir damit?
Wir leben in einer Zeit des Umbruchs. Unsere Vorstellungswelten, seien es die von Demokratie, Gewaltenteilung, der Rolle von Politik, stimmen. Und stimmen eben auch nicht. Die deutsche Verfassungwirklichkeit bricht sich schon konzeptionell mit der europäischen. Unser Leben und Handeln aber findet trotzdem statt. Wir, also die akademisch, womöglich politologisch, soziologisch und juristisch ge- und verbildeten müssen begreifen lernen, dass all diese Konzepte Adhoc-Konstruktionen sind. Und die werden im Moment umgebaut.
Deswegen bin ich über Europa gar nicht so unglücklich. Denn über die Krise rückt vielen Menschen die Wahrnehmung der anderen Europäischen Länder näher. Das ist europäische Öffentlichkeit. Das wird sich nicht sofort (Gott sei Dank!) in einer neuen europäischen Politik, einer neuen Verfassung widerspiegeln (und, Gott behüte, nicht in einem europäischen Sozialstaat, das kann nur schief gehen, so unterschiedlich, wie die Länder konstruiert sind). Trotzdem nimmt die Bereitschaft, gegeneinander Krieg zu führen, ab.
Klingt gut, aber wer jetzt den Wert „Friedlichkeit“ zu hoch hängt, muss, Beispiel Afghanistan, erkennen, dass Friedlichkeit nicht funktioniert. Unfriedlichkeit übrigens auch nicht, da haben die USA genügend Beispiele geliefert.
Was dann?
Wir müssen einfach erkennen, dass es in diesen Fragen derzeit in Deutschland keine ideologischen Auseinandersetzungen gibt. Dann ist das so. Jede der Parteien sucht für sich nach Begriffen, Konzepten und Ideen, wie sie die Gegenwart beschreibt und wie sie den Menschen angemessen beschreiben kann, was derzeit los ist. Und wie sie damit umgeht. Wer sich imguckt, erkennt, dass die Meinungsvielfalt innerhalb der Parteien größer ist als zwischen den Parteien. Das ist gut so, weil es der realen Lage entspricht. Mit dem Flüchtlingsproblem ist eingetreten, was Grüne und eine internationalistische Linke immer gesagt hat: Die Welt ist kleiner geworden. Und wir müssen irgendwann dafür zahlen, was wir angerichtet haben. Stimmt, aber das befreit uns ja nicht von der Aufgabe, das bestmöglich (und unter Zustimmung derer, die wählen dürfen) zu bewältigen. Also, die Frage ist nicht ob, sondern wie man Europa etwas abschotten kann (ohne sich inhuman zu fühlen). Und nicht ob, sondern wie man mit den Flüchtlingen umgeht, die da sind oder die einwandern.
Deswegen ist dieses Unaufgeregte, das derzeit in Deutschland dominiert, ganz gut. Wir werden genug damit zu tun haben, diese ganzen Herausforderungen einigermaßen zu managen, egal wer dran ist.
Zum Afghanistan-Deseaster: https://www.evernote.com/shard/s39/sh/dacefe7c-1abd-4317-a3e2-e357418db7f0/3678df3510e94705ce6e4d6d1ec49d18
Verfassungsrichter Huber: https://www.evernote.com/shard/s39/sh/ff85d55b-b9d7-45fa-aa61-e4d579d0f038/f173cde1bb96b5741dec30bfeef9048f