Wie die CDU ihren Weg nicht finden wird

Anmerkungen zum Großstadtpapier von Zimmer/Weinberg.

Die CDU kann Großstadt, das ist zumindest die Behauptung des Autorenpaars. Und sie versuchen es. Warum ich aber glaube, dass das Papier trotzdem an Ziel vorbei geht.

Und um gleich in die Vollen zu gehen: Das Papier zielt deshalb daneben, weil es wie am grünen Tisch konzipiert klingt. Doch selbst Molekularköche wissen: Am Ende muss das Essen schmecken. Und genau das fehlt. Geboten werden Allerweltsweisheiten und Wünsche. Es ist von einem „Markenkern“ der CDU die Rede, der aus christlichem Menschenbild, sozialer Marktwirtschaft und der europäischen Verankerung besteht. Hier wird der Wunsch zur Wirklichkeit. Und in diesen Traumlandschaften verirren sich die Autoren denn auch.

Was ich denke? Die CDU kann, was ein christliches Menschenbild definiert, längst nicht mehr definieren. Die Berufung auf die Soziale Marktwirtschaft ist inzwischen einerseits ein Allgemeinplatz, auf den sich, außer vielleicht die Linke, alle berufen. Auf der anderen Seite ist es mit dem marktwirtschaftlichen Verständnis der CDU längst nicht mehr so weit her. Die große Koalition hat ja auch deshalb so gut funktioniert, weil die beiden früheren Volksparteien sich zu einem politischen Rettungsbündnis der unteren Mittelschichten zusammengeschlossen haben, das Angela Merkel überhaupt erst die Möglichkeit gegeben hat, die CDU auf Realitätsfähigkeit zu trimmen. (Man sollte es auch einmal aussprechen: Schon am Wahlabend hatte Angela Merkel begriffen, dass der wirtschaftsliberale Kurs, den sie mit dem Heidelberger Professor und unter großem Beifall der Hauptstadtmedien propagiert hatte, draußen auf dem Lande nicht verfangen hat. Sie hat ihre Learnings daraus gezogen, – auch hinsichtlich der Bedeutungslosigkeit der meinungsbildenden Medien!)

Realitätsfähigkeit der CDU, das bedeutete und bedeutet noch immer, alle möglichen verlassenen Türme in der vormaligen Festung CDU zu schleifen. Die Vielfalt der Lebensformen, von gleichgeschlechtlichen Beziehungen über Scheidung, Trennung, Neuarrangement, neudeutsch Patchworkfamilie, Rechte (und, wie inzwischen immer mehr sichtbar wird, neue Pflichten) der Frau, all diese Fragen hat Angela Merkel mit protestantischer Nüchternheit abgeräumt, wider ihren Willen unterstützt von den westdeutschen Ministerpräsidenten und Spitzenpolitiker, Oettinger, Wulff, Seehofer, die sich die persönliche Freizügigkeit in der einen oder anderen Form auch selber geleistet haben. Das Private ist inzwischen politisch geworden. Das gilt auch für CDU/CSU. Wie schwer sich CDU/CSU in Sachen Modernisierung tun, erkennt man am besten an der Debatte um die von der CSU geforderte Herdprämie. Konflikte, und da erkennt man auch die starke Begrenzung der CDU, werden oftmals durch „faule Kompromisse“ gelöst, in der politische Fragen nicht entschieden, sondern in ihrer Gegenläufigkeit noch finanziert werden. Da läuft dann auch die Wirtschaft zu recht Sturm.

Realitätsfähigkeit herstellen, Ole von Beust kann davon ein schmerzhaftes Liedchen singen, bedeutete auch, das dreigliedrige Schulsystem zu schleifen. Es würde etwas länger dauern, das Scheitern Schwarzgrüns an diesem Punkt zu erläutern. Und es würde auch bedeuten, den Selbstbetrug der aufgeklärten Bürgerinnen und Bürger, für ein geöffnetes Schulwesen zu plädieren, ihren eigenen Kindern aber selbst lieber die besten aller Bildungswelten zukommen lassen zu wollen, eingehender behandeln zu müssen.

Inwieweit Realitätsfähigkeit auch umfasst, die atomare Energieversorgung als Ausdruck von Technologiefreundlichkeit zu schleifen, kann trefflich diskutiert werden. Fakt ist, dass Angela Merkels doppelte Energiewendewende eine zusätzlich verunsicherte Partei hinterlassen hat, ein Schaden, den konservative Zeitgeistanalytiker gerne ausblenden.

Die Aufgabe der beiden Volksparteien besteht darin, „in der Mitte der Gesellschaft“ also bei Modernisierungsverlierern und Gewinnern der unteren und mittleren Mittelschichten Akzeptanz für das herrschende Gesellschaftsmodell herzustellen, die Mitte der Gesellschaft neu zu formen. Das ist naturgemäß nicht ganz einfach. Es gilt, Modernisierungsverlierer und Gewinner zusammen zu bringen, Ossis wie Wessis, Gebildete (und damit Menschen mit ökonomischen Marktchancen) und Ungebildete (was heißt, solche mit wenigen Chancen).

Die SPD favorisiert dafür einen stark umverteilenden Staat, auch wenn die Grenzen des Umverteilens inzwischen allerorts sichtbar sind. Die CDU hält weithin im Nebel, was soziale Marktwirtschaft sein könnte außer ein „irgendwie weiter so“, faktisch nähert sie sich weitgehend der SPD an. Alleine: Das gelingt nicht. Und führt dazu, dass das Modell patriarchaler Führung, dem auch Angela Merkel huldigt, auf geplant scharfe Eingriffe verzichtet (die Fukushima-Konsequenz war da eine Ausnahme) unter dem Strich dazu führt, dass CDU Politik oftmals als sehr konturenlos, taktisch motiviert und farblos daher kommt. Auf den Punkt gebracht: Es fehlen der CDU Leitbegriffe und -ideen oberhalb des Beliebigen, die der eigenen Anhängerschaft, vorrangig den Parteiaktiven in Kommune, Land und Bund Verankerung in der eigenen Geschichte und eine Orientierung in den vor uns liegenden Stürmen geben (Heiner Geißler hat mal was geschrieben, sinngemäß, die CDU hat drei Wurzeln, das konservative, das christliche und das ökonomische der sozialen Marktwirtschaft und hat auch ausgeführt, wie das in die Zukunft zu führen wäre. Ich finde das Interview oder den Beitrag aber nicht mehr. Und leider hat in der CDU niemand die intellektuelle Größe eines Heiner Geißlers, solche Gedanken aufnehmen und durch das Sperrfeuer der Kritik hindurch verfechten zu können).

Und es fehlen Personen, die sich für Ihre Ideen stark machen, Angriffen und Risiken aussetzen, ihre Linien durchkämpfen und damit Ausstrahlung gewinnen, – für potentielle Wähler ebenso wie für künftige Mitstreiter. Denn daran fehlt es zuvorderst. Das ist das Problem, wenn vom „Markenkern“ einer Partei gesprochen wird. Das sitzt dem Irrglauben auf, dass das Produkt lebendig ist, nur besser verkauft werden muss. Tatsächlich ist aber längst unklar, was das Produkt ist. Und wer das Produkt künftig herstellen soll.

Vor diesem Hintergrund hat Angela Merkels zurückgenommene Art des vorsichtig zögernden Vorangehens seine gute Begründung. Der konservativ bürgerliche Teil Deutschlands ist in mehrfacher Hinsicht orientierungslos geworden. Und diese Orientierungslosigkeit spiegelt sich ganz deutlich in der CDU wider, die, halb zog es sie, halb sanken sie hin, aufgrund der personalen Akzeptanz Angela Merkels sich hinter ihr scharen. Macht macht sexy. Und egal, ob Mann oder Frau, letztlich beeindruckt an Angela Merkel einfach die nüchterne Verlässlichkeit, mit der sie Themen abarbeitet. Wie bei jedem Modell von Herrschaft bleibt zu fragen, welche Schäden dieses Modell anrichtet. Eines springt förmlich ins Auge: Mit ihrer sanft knallharten Machtpolitik hat Angela Merkel nicht nur alle Gegner, sondern auch alle mittelfristig verlässlichen Partner für die Entwicklung parteilicher Identität aus dem Wege geräumt. Schäuble bleibt als schwäbischer Preusse, de Maizeiere als Mann für alle Fälle und von der Leyen hält die Sozialdemokraten unter Druck. Mehr ist nicht. Das ist bitter, nicht nur für die CDU, sondern auch für ihre politischen Gegner, die dadurch an Stärke (durch Auseinandersetzung) verlieren.

Wo liegen also die Chancen der CDU als Großstadtpartei? Großstadtpartei zu sein, bedeutet, die Realitäten von der Spitze der Veränderung her zu begreifen. Und zwar die positiven wie die negativen, die Chancen wie die Risiken. Wir blicken wieder auf das Lösungsangebot von Zimmer/Weinberg.

Es gibt einen Punkt, den ich aus dem Papier für diskussionswürdig halte, nämlich das Petitum „Die
Union sollte aus ihrem Grundverständnis heraus vielfältige Formen der Gemeinschaftsbildung in Städten als Gegengewicht zu einer zunehmenden Anonymisierung und Individualisierung unterstützen.“

Ja, ja, ja. Die Alternative der CDU (wie übrigens auch der FDP, aber lassen wir das beiseite) liegt in der Selbstermächtigung der Gesellschaft. Politik kann einen Beitrag dazu leisten, Gesellschaft zu formen, aber eben nur einen Beitrag. Nur die beiden altbürgerlichen Parteien könnten die Botschaft, dass die Gesellschaft aufgefordert ist, ihr So Sein zu behaupten (und den neuen Realitäten anzupassen), adaptieren und interpretieren. Nur: Sie wissen nicht, wie. Wir alle kennen das Subsidiaritätsprinzip. Aber so, wie es heute verstanden wird, nämlich als Freifahrschein für Träger gemeinnütziger Organisationen, in erstarrt quotierten Bereichen (wenn die CDU dran ist, mehr Kirche, sonst mehr andere Träger), über öffentliche Stellen abrechnen zu können, funktioniert es nicht mehr.

Ist das Gemeinschaftsbildung? Sieht sich irgend jemand einmal selbstkritisch die institutionelle Verfasstheit klassischer Institutionen an? Redet jemand einmal über die Frage von Leistungsfähigkeit dieser Strukturen, Erneuerung. Nur ein Beispiel dafür: Das Rote Kreuz. Nicht nur in Baden-Württemberg war der CDU-Kreisvorsitz oder Landtagsmandat lange Jahre identisch mit dem Rote-Kreuz-Kreisvorsitz (und der Besoldung als Hauptamtlicher). Was ist der Leistungsnachweis dafür? Nichts. Dafür werden gesellschaftliche Organisationen als politischer Hinterhof gehalten. Ähnliches auch in der Bundesanstalt für Arbeit: Quotiert werden hier die Bildungsträger der Ausrichtsstrukturen, Arbeitgeber, Gewerkschaften, bedient. Entflechtung, um echte und leistungsorientierte Auswahl zu ermöglichen? Fehlanzeige. Vetterleswirtschaft.

Stattdessen fordern Zimmer/Weinberg „neue Formen des gesellschaftlichen Mitwirkens“. Ja, ja, ja. Aber die Praxis. Warum tut das niemand? Weil, so meine Vermutung, die CDU schon glücklich ist, die wachsenden Lücken unter ihren überalterten Mandatsträgern und Vorständen mit jungen Aktiven zu schließen. Weil diese jungen Aktiven vorrangig aus Karrieregründen der CDU beitreten, Jens Spahn, der immer anführt, er wäre in die CDU eingetreten, weil ihm gestunken hätte, dass immer nur die linken die Diskussion dominiert hätten, ist eine rühmliche Ausnahme. Ja, sich empören, ärgern, ist immer noch eines der besten Motive für nachhaltiges Engagement. Und wenn Menschen dann dort Heimat fnden, können sie auch eine neue Identität entwickeln. Am Reisbrett geht das nicht.

Wenn jetzt alle über neue Formen gesellschaftlichen Mitwirkens reden, täusche sich niemand. Selbst bei einer relativ jungen Partei wie den GRÜNEN war und ist das ein schwieriges Thema. Und bei der CDU, in der oftmals die Äußerung abweichender Meinungen und Diskussion als Kritik betrachtet wird, schlägt das besonders problematisch zu Buche. Letztlich konkurrieren die Parteien um dieselben Personen. Angela Merkel äußerte, ich hoffe, ich erinnere mich richtig, mal, sie hätte genauso gut in der SPD sein können. Von vielen grünen Neumitgliedern ist zu hören, sie hätten sich alle Parteien erst einmal angesehen, aber die Grünen wären die einzige Partei, bei denen wirklich offen diskutiert werden kann (ist auch nicht immer so). Also, nicht das Programm macht die Musik, sondern das gefühlte Innenleben der Partei vor Ort, die Menschen. Vor künstlich aufgeblähten Maßnahmen symbolischer Partizipation kommt immer erst die Bereitschaft und der Wille der Aktiven vor Ort, neues und anderes auch einfach zuzulassen und als positives Momentum zu verstehen.

Zu einfach sind auch die Schlußfolgerungen von Zimmer/Weinberg: Die CDU kann Wirtschaft Finanzen und Sicherheit, also die grundlegenden Leistungsbereiche der Gesellschaft, die Grünen, das kommt ex- und implizit immer wieder zum Ausdruck, können nur Lifestyle, Weich- und Wohlfühlthemen (Kultur, Postmaterialismus) und, wie alle Linken, Geldausgeben.

So schlicht können Weltbilder sein. Wir, das sind die Harten, die sich um die Grundlagen kümmern, das da, das sind unsere missratenen Kinder, die es immer nur wohfühlig haben wollen. Über die Schlußfolgerung, die Grünen auch an Grausamkeiten zu beteiligen, könnte man sich noch verständigen. Dumm nur, dass bei aller richtigen Wahrnehmung, dass sich die Grünen aus einem postmateriellen Wohlfühlmilieu heraus entwickelt haben, die Wahrnehmung auf der Strecke bleibt. Grüne sind, wo sie an der Regierung sind, längst mindestens ebenso nachhaltige, kompetente Sach- und Fachpolitiker wie gestandene Konservative. Weil sie auch noch konfliktbereit sind, verfügen sie über ein Plus an Handlungsfähigkeit. Und manchmal, dazu kann man nur auf die Beobachtungen des Spiegels im Südwesten der Republik verweisen, sind die Grünen längst über das Stadium der Empörungs- und Wohlfühlpolitik hinausgewachsen, zur Konzept- und Umsetzungspartei geworden. Und sie sind bereit, die dafür notwendigen Konflikte in Angriff zu nehmen.

Insofern, und da kommen wir zum Kern der Kontroverse, geht es darum, wer die Insignien bürgerschaftlichen Engagements, nämlich persönliche Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit und Standvermögen hat oder nicht hat. Und da ist eine Partei, die sich ständig erneuert, die immer wieder neue Mitglieder und Aktive gewinnen kann, weil sich einige, nach den ersten Wellen von Empörung und zivilgesellschaftlichem Engagement, entscheiden, politische Verantwortung zu übernehmen und deswegen Alteingesessene verdrängen oder wegfegen, da können Claudia Roth, Renate Künast, der Münchner Sepp Monatseder oder der Bundestagsabgeordnete Jerzy Monatseder, mitsamt alles verdiente Politiker mit einem klaren Leistungsprofil, ein Lied davon singen.

Politik ist Wettbewerb um die besten Ideen und die besten Köpfe. Und um im Kampf um politische Führung die Weichen neu und richtig zu stellen, wäre, so mein Petitum für jede Partei, der erste Schritt, die Partei zu öffnen, neue Ideen hinein zu lassen.

Und erst, wenn die CDU wieder mehr Kraft, mehr Jugendlichkeit, mehr Realitätssinn entwickelt und darauf aufbauend, Identität gewonnen hat, um im Kampf um politische Führung ein belastbares Wort mitzusprechen, erst dann kann die CDU ihre Großstadtfähigkeit unter Beweis stellen.

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Vor diesem Hintergrund wäre es für die CDU gut, die politische Macht im Lande zu verlieren. Sie könnte sich selbst endlich ernst nehmen und nicht weiter durch die unverwüstliche Angela Merkel davon abgelenkt werden, als Partei versagt zu haben.

Es geht um die Mühen der Ebenen. Die hohe Zustimmung, die Grüne, wenn sie keine Fehler machen, derzeit erzielen, sind Folgen ihrer Zurückhaltung, Nachdenklichkeit, wenn sie erfolgreich sind wie in Baden-Württemberg. Das kommt aber, siehe Berlin, nur zum Tragen, wenn nicht selbstbezüglicher Größenwahn Platz greift. Und der Erfolg fußt auf einer langjährigen gesellschaftlichen Auseinandersetzung, in der Grüne, von allen verurteilt, verlacht, gegeiselt, an sich selbst geglaubt, an sich selbst geschraubt, sich selbst Fallen gebaut und gelernt haben, dies sein zu lassen, sich gestritten und zu neuen, belastbaren Konsensen gefunden haben, neugierig darauf waren, ob sie es besser können. Und die dabei dabei immer die Fragen in den Augen behalten haben, die auf die Gesellschaft zu kommen.

Vor diesem Hintergrund reden und denken Grüne über die Fragen von Multikulti, Identität und Integration ganz anders als vor 20 Jahren. Aber das wäre jetzt noch ein anderes Kapitel, wie die beiden Autoren, die den Begriff Leitkultur und noch einige andere als tauglich befinden, die jetzige multiethnische Gesellschaft zu neuer und belastbarer Gemeinsamkeit formen wollen. Deshalb nochmal meine abschließende These: Realitätsbezogene Wahrnehmung und eine engagierte, persönliche Haltung, das sind die beiden wesentlichen Grundelemente, um sich eine neue CDU entwickeln könnte. Scheinbare Markenkerne sind da nicht von Nöten.

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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