Wie lange können die Grünen Realitäten ignorieren?

Ich beobachte bei den Grünen eine eigenartige Ambivalenz: Alltagspolitisch verhalten sie sich nüchtern und sachbezogen, aber das Scheitern in der Ampel konzeptionell aufzuarbeiten, weigern sie sich konstant. Weder das Papier der Böll-Stiftung, noch der Namensbeitrag von Franziska Brantner und Felix Banaszak in der FAZ nehmen die tieferliegenden Fragen des grünen Scheiterns in den Blick. 

Ein Rundumblick. 

Loben wir erstmal: Die Zustimmung zum Sondervermögen war nüchtern kalkuliert, aber gut gemacht. Die Statement, konstruktiv Kritik zu äußern, entsprechen dem, was Demokraten heute tun sollten: Streiten über unterschiedliche Positionen oder Lösungen, aber alles auf einer gemeinsamen Grundhaltung: Der, eine freie, selbst- und problembewußte Gesellschaft weiter zu entwickeln. 

Die Frage ist: Wie lässt sich das ausbuchstabieren? 

Wir bilanzieren: 

Die Wahl ist vorbei. Eine Wahlauswertung fand nicht statt. Die Böll-Stiftung hat eine Studie vorgelegt, die jeder Unternehmensberatung gut anstehen würde: Die Erwartungshaltung des (ideellen) Auftraggebers antizipieren und Vorschläge unterbreiten, wie die Arbeit verbessert werden könnte. Kurztext: Besser organisieren, besser strukturieren, besser kommunizieren. Aber löst das die Fragen, vor denen die westlichen Demokratien stehen? Dem Vertrauensverlust, der in allen europäischen Ländern und den USA zu beobachten ist? Der Flucht in einfache Narrative, mit der es Populisten versuchen. Oder der Errichtung einer Brandmauer, dem Lieblingsprojekt der linken Mitte, mit der sie scheinbar ihre Unschuld bewahren, tatsächlich aber dem Glaubwürdigkeitsverlust etablierter Politik ratlos zusehen. 

Die beiden Vorsitzenden haben kurz danach einen Namensbeitrag in der FAZ lanciert. Wir, die Grünen, sollten danach mehr in die Kneipen gehen. Gut so! Mehr mit den Leuten reden! Noch besser. Allerdings: Das hat Robert auch schon gemacht, das war sein Erfolgsrezept. Nur, so mein Eindruck, er hat keine Konsequenzen gezogen. Stattdessen meinte er, er könne, quasi im 1:1 auch die Grünen für eine Kurseinwendung gewinnen. Diskursiv, wie es so seine Art war. 

Ist das ne Lösung? 

Sehen wir uns genauer an, was die beiden Vorsitzenden schreiben. 

“Der Schlüssel für eine grüne Politik der Zukunft, die diese Herausforderungen entschlossen angeht und dafür Unterstützung mobilisiert, statt Widerstand auszulösen, ist ein einfaches Begriffspaar: Ehrlichkeit und Empathie.

Ehrlichkeit heißt: Sagen, was ist. Vertrauen schwindet dort, wo Politik ausweicht, beschönigt oder zu offensichtlichen Problemen nicht mal die passende Sprache findet. Deshalb wollen wir unsere Ziele klar aufzeigen, Zumutungen transparent benennen, Kompromisse erklären.”

Ok, passt schon. Aber bedeutet das Führung? Reden die beiden auch darüber, was die Herausforderungen sind. Und vor allem: Wie sie, wie wir, die Grünen diese lösen wollen? 

Kein Wort. Im Gegenteil. Kein Wort zu den Herausforderungen, die uns von außen drohen. In der Reihenfolge der Herausforderungen: Putin, Trump, Netanjahu, Xi, um das an den Männern festzumachen. Die Reihenfolge kann man aber auch ändern, je nachdem, ob man die offenen Kriegserklärungen oder die wirtschaftlichen Herausforderungen priorisiert. 

Der Herausforderungen sind also viele. Der Westen ist gefordert, wie er es nie war. Von innen, von außen. Der Westen, die Idee einer offenen, liberalen Welt, in der Menschen, als Bürger, als Menschen, sich äußern können, sich einbringen können, Ideen zu Lösungen und Produkten entwickeln, ein Teil der Lösung sein können (und müssen), dieses einzigartige Experiment, steht unter einer existenziellen Herausforderung. 

Konkret: Reden wir im Westen über Freiheit, Freiheitsrechte, Selbstbestimmung und Bürgerrechte. Machen wir uns bewusst, dass, bevor Menschen sich um Freiheitsrechte nachdenken oder sich diese engagieren, sich von ihrer Lebenssituation herausgefordert oder aufgehoben fühlen? Und schweigen darüber, dass der Westen AUCH groß geworden ist, weil er den Rest der Welt unterworfen und ausgeplündert hat (wobei: auch das muss man können). 

Oder reden wir über liberale Gesellschaften, weil wir das nach wie vor um eine Idee halten, um die sich zu streiten lohnt. Weil es eine Vision ist, um die sich zu streiten lohnt. Trotz der “Leichen im Keller”. Reden wir über den Westen, über liberale Gesellschaften, weil wir davon überzeugt sind, dass in einer liberalen Wirtschaftswelt Unternehmen aus Forschung, Ideen, Lösungen entwickeln, die die Probleme der Welt lösen helfen? Oder glauben wir weiterhin, dass politische Mehrheitsbeschlüsse die bessere Alternative sind, weil sie politisch gefällt wurden?

Ich bin fest davon überzeugt, dass mehr Köpfe, mit ganz unterschiedlichen Ideen, bessere Lösungen produzieren als politische Mainstreamentscheider, die von NGOs getrieben werden, die dasselbe Weltbild teilen, aber noch nie ein Problem selbst, das bedeutet, mit eigenen Risiken, gelöst haben. 

Deswegen plädiere ich dafür, dass wir, Bündnis 90/DIE GRÜNEN die Idee freier Gesellschaften für uns wieder entdecken und, politisch und wirtschaftlich, doppelt frei, mit allen Mitteln verteidigen. 

Und ich vermisse diese Aspekte, diese intellektuelle Neugier in der innergrünen Debatte! 

Jetzt wieder zurück zu den Ausführungen unserer grünen Häuptlinge. 

Finden wir wirklich, dass diese Ausführungen die Antwort auf die Herausforderungen sind? Meinen wir wirklich, dass wir, die Grünen, mit unserem harmonistischen Weltbild die richtige Aufstellung haben, um Antworten auf die großen Herausforderungen zu finden. Denken wir wirklich, dass Politik, so konfliktscheu, wie sie sich darstellt, darauf wirklich Antworten finden will. Und Antworten finden kann. 

Ich glaube das nicht. 

Und deswegen will ich den Debattenraum öffnen. Weil ich noch immer an die intellektuelle Kraft der Grünen glaube. 

Trotz allem!

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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