Es war ein sehr interessanter Abend mit einer sehr kontroversen Diskussion. Hermann Ott, jetzt wieder Wuppertal-Institut, hat seine Erfahrungen als den unterschiedlichen Perspektiven von Politik und Wissenschaft vorgetragen. Eine sehr kontroverse Diskussion. Ich habe mal versucht, das Thema aus meiner ganz unwissenschaftlichen Sicht zu ordnen.
1) Politik ist nicht Politik, Wissenschaft nicht gleich Wissenschaft. Man unterscheide:
In der Politik:
Bundestag, Oppositions- oder Regierungsfraktionen, Bundesregierung
Themenbereich
Wissenschaft:
Grundlagenforschung
Auftragsforschung
Drittmittelforschung
Politikberatung
Die nationale Dimension
Zur Politik:
Arbeit für die Oppositionsfraktionen ist sozusagen Vorbereitungsarbeit, es geht um Vertrauensbildung, Kennenlernen und Akzeptanz der gegenseitigen Wahrnehmung und, seitens der Politik, zu klären, ob man dieselben Andockpunkte hat (ob also die Wissenschaft die Relevanzbereiche der Politik versteht). Und immer um das Thema, stimmt die persönliche Chemie, also, kann man schnell mal anrufen und einen Rat einholen, ohne etwas bezahlen zu müssen. So entstehen Einflußgeflechte.
Opposition ist Regierung im Wartestand, deswegen sind Kontakte mit der Opposition auch Kontakte, die der Vorbereitung möglichen Regierungshandelns (und grösserer Aufträge) dienen.
Parteien/Fraktionen können aber auch das „Framing“/Themenwahrnehmung beeinflussen. Die Frqgestellung ist dann, gelingt es, das Denken einer Partei zu „reframen“, also aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen für die Politik relevante Erkenntnisse bereit zu stellen, die eine neue Perspektive, einen neuen Ansatz in der politischen Diskussion ergeben würden. (Beispiel: Das Faktor oder Klimarucksack-Konzept).
Politik lebt von der Differenzierung, also wird das Relevanzkriterium des Politikers, wenn er gut ist, immer sein, „what’s new, what’s the message“, es geht (auch) um Botschaftsmanagement. Substanzielle Strategie und Kommunikation (Ziele und Strategie auf der einen Seite, Taktik und Politikvermittlung auf der anderen Seite, werden dabei in der Politik oft verwechselt.
In der Regierungsberatung geht es immer um Machbarkeit, Konzeptionalisierungsarbeit. Man unterschätzt den indirekten Einfluß der Wissenschaft auf die Politik, weil vieles, was wissenschaftlicher Mainstream ist, natürlich unbewußt oder vorbewußt in das Bewußtsein von Politikern einsickert; – deswegen auch die Fragehaltung, what’s new?
Zu den Themenbereichen:
In der Medizin und Gesundheitsversorgung hat die Wissenschaft großen Einfluß. Dabei hat die Wissenschaft längst aufgehört, eigene Maßstäbe, ein eigenes Bild auf das Gesundheitswesen zu entwickeln. Die führenden Versorgungsforscher streben nach Monopolisierung des Einflusses, ähnlich in der Wirtschaftswissenschaft. Rürup war das eine ganze Weile. Ohne oder gegen ihn ging nichts. Für solche Forscher (dabei will ich Rürup ausnehmen, der hatte Präzision und Präsenz) besteht die Gefahr, allen Parteien nach dem Mund zu reden. Nennen wir sie „Auftragshaie“. Die Kategorie der Auftragshaie ist in diesem Sektor das größte Problem, weil die Politik und die Selbstverwaltung (G-BA) eine quasi-oligopoler Auftraggeber/Auftragsgeber-Cluster ist. Niemand will sich, das ist dann spezifisch deutsch, kontrovers äußern aus Sorge, keine Aufträge mehr zu erhalten.
In der Medizin ist das anders, da ist die Forschung ganz eng mit der Industrie verknüpft. Getrieben wird es da von den hohen Kosten, die sich Forschung/Öffentliche Hand und Industrie teilen und dem Auftragsforschungsgeschäft, das Mediziner und Gesundheitsforscher oft in Privatinstituten auslagern, da geht es gleichermaßen um Flexibilität, aber auch die Befriedigung von Eitelkeit und Geschäftstüchtigkeit.
Finanzwissenschaften sind noch einflußreicher und stärker vernetzt.
In der Arbeitsmarktpolitik gibt es ein Monopolphänomen: In der Politik kann sich niemand ein anderes Modell als das Monopolmodell der Arbeitsmarktverwaltung vorstellen. Diese vergibt auch alle Aufträge, deswegen werden bei Evaluationsaufträgen (bspw. Hartz Gesetze) manchmal einfach alle Forschungsinstitute mit Aufträgen belegt, sprich, vom Markt wegekauft.
Bei den Gesellschaftswissenschaften im Bereich Umwelt und Klima gibt es ein Sonderproblem: Die Forscher sind alle Gesinnungstäter. So wird der Markt der Meinungen durch dauernd neue Studien verstopft, die politisch immer dasselbe Problem haben: Jeder weiß, dass es das Klimaproblem gibt, keiner will anfangen. Und dann wird die Öffentlichkeit und die Politik des Themas überdrüssig. Siehe auch Richard Münch, Dialektik der Kommunikationsgesellschaft, der von Themenkonjunkturen spricht. Wenn der Meinungsmarkt von einem Thema geflutet wird, bricht er zusammen, man will nichts mehr davon hören. Man muss akzeptieren, dass zu bestimmten Zeiten die Politik keine neuen Studien über das Großproblem Klimawandel will, weil im Grunde alles gesagt ist, aber niemand die notwendigen große Schritte (also die notwendigen Schritte) gehen will.
Zu den deutschen Spezifikas der Wissenschaft für die Politik:
In der Evaluationsforschung gibt es in Deutschland ein Problem: Es ist Azeptanzforschung in dem Sinne, dass es auf jeden Fall die Akzeptanz und den Erfolg des Vorhabens zum Ergebnis haben muss. Das ist übrigens in angelsächsischen Kulturen anders, da geht es kontroverser zu. Auf Europäischer Ebene ist das ebenso konsensorientiert, man studiere da mal die Evaluation der Lissabon-Strategie. Die Ziele nicht erreicht, aber die Evaluation sagt, sie war trotzdem erfolgreich. Damit sind wir beim Grundproblem deutscher (und oftmals auch europäischer) Politik: Dem Umgang mit unangenehmen Wahrheiten.
In Deutschland wird Wissenschaft als Konsensbetrieb mit, siehe Sachverständigenräte, maximal Minderheitsvoten verstanden. In angelsächsischen Kulturen ist Wissenschaft ein Krieg um die Köpfe. Konsensbetrieb bedeutet oftmals übrigens nicht Suche nach der Wahrheit, sondern das Wegdefinieren von Konflikten und strittigen Themen und Gesichtspunkten.
Für den politischen Meinungskampf gilt: Es geht nicht um Wahrheit, sondern um Relevanz (substanziell) oder um Wahrnehmbarkeit (Kommunizierbarkeit).
Zur Rolle der Wissenschaft im politischen Bereich/der politischen Öffentlichkeit:
Unterschätzt wurde gestern der indirekte Einfluß der Wissenschaft auf die öffentliche Wahrnehmung und die Politik. Das „Rucksack“-Konzept, die Faktor Diskussionen zeigen, wie wissenschaftliche Erkenntnisse dann in die Köpfe einsickern, wenn sie einen „WahrnehmungsaNker“ haben, einen Kerngedanken, der, wie ein Marker, eine Zuspitzung darstellt, der die Diskussion neu strukturiert.
Zum Thema Wissenschaft als Religion empfiehlt sich: Markus Gabriel, warum es die Welt nicht gibt. Danach hat man eine ganz andere Wahrnehmung des Themas „Konstruktion von Wirklichkeit durch Wissenschaft“.
Eines darf nicht verkannt werden: Es geht im Verhältnis von Wissenschaft und Politik nicht um objektive Erkenntnis, sondern um relevante Erkenntnisse und Handlungsvorschläge. Oder im gesellschaftspolitischen Bereich, oft um „Reframing“, die Zeichnung eines anderen Bildes von Wirklichkeit. Die Kategorie „Richtig oder Falsch“ wird dabei besser ersetzt durch „relevant oder nicht relevant“, gerade im politischen Bereich.
Das Sakrosankte der Wissenschaftlichkeit in Deutschland ist meines Erachtens auch Folge der „Aufklärung von Oben“, also eines starken preußischen Staates mit den auklärerischen Reformern Humboldt, Pestalozzi, dem ganzen Deutschen Idealismus und der Tradition der Wissenschaft als „Elfenbeinturm“. Diesem Erbe hat sich die deutsche Wissenschaftscommunity nie richtig gestellt. Schwerfällige Privilegien wissenschaftlicher Institutionen werden aus standespolitischen Gründen verteidigt, der Professor als „Gott“, die wissenschaftlichen Angestellten als wissenschaftliche Tagelöhner, die den Göttern dienen, definiert. Dasselbe Wissenschaftssystem definiert sich beispielsweise in den Niederlanden ganz anders. Der ganze Bologna Prozess hat in Deutschland in der Folge zu Statuskämpfen der Wissenschaften geführt anstatt sich der Herausforderung zu stellen, dass Wissenschaften im Auftragsforschungsbereich bestenfalls Konzepte für Problemlösung produzieren, manchmal nur Problembeschreibungen. Diese Systemanforderungen werden zu wenig pragmatisch definiert. Sehr lesensewert: Richard Münch, akademischer Kapitalismus.
Zu den Beschränkungen von Wissenschaft und Politik:
Für die Politik gilt: Sie überschätzt sich, weil Politik als „Multistakeholderprozess“ in einem offenen System zu vielen Einflüssen unterliegt als dass (zumeist) zielgerichtete Prozesse umgesetzt werden können. Da hilft auch das beste Konzept nichts.
Nebenbemerkung: Da täuschen sich meines Erachtens auch die Partizipationsfans, weil sie glauben, mit mehr Einbindung in Entscheidungen würde die Akzeptanz der Entscheidung erhöht. Wenn man vermeidbare Fehler durch Partizipation vermeidet, funktioniert das manchmal, manchmal aber auch nicht. Oft werden Konflikte nicht einfach als Konflikte akzeptiert und trotzdem entschieden, sondern in einem Scheindiskurs so lange verzögert und mit Geld alimentiert, bis alle unbefriedigt und entnervt oder desillusionert das Projekt beenden. Berater spielen da oft eine ungute Rolle, weil sie auf das Projektgeld scharf sind.
Insgesamt besteht die Gefahr, dass durch die Akademisierung des Politikbetriebs ein Schulterschluss von Wissenschaft und Politik entsteht, der der Herrschaftssicherung dient. Vernachlässigt wird Prozessswissen, Handlungswissen, Erfahrungswissen. Es könnte eine Abgehobenheit von Politik und Wissenschaft entstehen wie wir sie in Frankreich im Schulterschluß von Politik und Wirtschaft beobachten können: Sie gingen alle auf dieselben Schulen und ihnen fallen immer nur dieselben Rezepte ein. Eine analoge Entwicklung von Herrschaftsklassen könnte sich in Deutschland im Zusammenspiel zwischen Politik und Wissenschaften herausbilden.
Politik und Wissenschaft im Spannungsfeld mit anderen gesellschaftlichen Playern: Unternehmen, Wirtschaft und wirtschaftliche Interessen, dadurch auch internationale Beziehungen werden, insbesondere im linksgrünroten Lager als unberechtigte „Lobbyinteressen“ wahrgenommen und im politischen Diskurs stigmatisiert und (öffentlich) nicht ernst genommen. Die Ausgrenzung schwieriger, konfliktbehafteter Themen, die einem „friedlichen Weltbild“, das in Deutschland inzwischen Konsens ist, ist eines der schwerwiegendste Herausforderungen für die politische Öffentlichkeit Deutschlands, in vielerlei Hinsicht auch Europas. Die eigenen materiellen Interessen, Wohlstand, Sicherung von Rohstoffmärkten werden geleugnet. Die Tatsache, dass der Westen sich künftig behaupten muss (und er nicht weiß, wie er das tun soll, friedlich, unfriedlich, welche Mischung) wird offiziell ausgeblendet. Das verhindert, dass Politik die Bevölkerung für den zwar begrenzt gestaltbaren, aber im Moment doch alternativlosen Weg in eine offene, wettbewerbsfähige Gesellschaft mobilisieren kann.
Nüchtern betrachtet geht es doch darum, das Wohlstandsversprechen gegenüber der eigenen Bevölkerung mit den globalen Herausforderungen (Umwelt, Klima, Rohstoffe) und dem Thema sozialer Zusammenhalt/Gerechtigkeitsversprechen zusammen zu bringen.
Die Realität einer offenen, wettbewerblichen Welt, die ausgrenzt, Verlierer produziert, ungerecht ist, erleben die Bürgerinnen und Bürger jeden Tag. Weil Politik nicht darüber spricht und die Welt weichzeichnet, wird sie nicht ernst genommen. Scheinbar emanzipatorische Wissenschaft hilft der Politik oftmals bei dieser Weichzeichnung.
Damit ist sie Teil eines realen Problems, nicht der Lösung.