Marc Beise hat es in der Süddeutschen vom 13.11.2010 auf den Punkt gebracht: „Viele Politiker denken zu eindimensional. Verständlich, aber falsch“, schreibt er über eine zu starke Fixierung auf Budgetsanierung.
In der Tat: Zu viel passiert zu ungleichzeitig, als dass es im ein Bild zu bringen ist. Und: Die Öffentlichkeit will trotz allem das Gefühl behalten, dass die Politik das „irgendwie“ in Griff kriegt. Was eigentlich? Eine Rundumschau.
Die deutsche Perspektive kennen wir ja. Wir Deutschen sind tapfer und fleißig. Und deshalb sind wir weltweit so erfolgreich. Und deshalb ist eine Beschränkung von Exportquoten aus unserer Sicht, der Sicht des Landes, das derzeit die geringste Arbeitlosigkeit seit langem hat, der falsche Weg. Ein bißchen erschrocken bin ich dann doch über die Berliner Zeitung, am Kiosk gekauft, weil der Zustellservice seit geschlagenen zwei Wochen!! (Das ist Berlin), die Zeitung, wenn erst nach 9 Uhr liefert. Zurück: 42 Millionen brauchen Essensmarken, titeln FR und Berliner Zeitung. Der Harvard Professor Hans-Helmut Kotz nennt ein paar beeindruckende Zahlen, die Obamas Deseaster verständlich machen. Die effektive, offizielle Arbeitslosigkeit in den USA liegt bei 17%. 42 Mio, jeder sechste Haushalt in den USA, ist auf Essensmarken angewiesen. It’s another world. Das Kernland des Kapitalismus, der Garant der Freiheit, steht auf tönernen Füßen; – und die Welt mit ihm. Da die Spaltung in oben und unten, in prosperierende und verlierende Regionen wesentlich stärker ist als bei uns, ist es kein Wunder, dass die Menschen, die um ihre Existenz kämpfen, für die mittelfristig richtigen Pläne, kein Ohr haben. Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Und die Tea Party Anhänger organisieren die Sicherung des Erreichten umso massiver als Gegenbewegung des „Staat, halt Dich raus!“.
Zurück in Deutschland nimmt man dann zur Kenntnis, dass die GRÜNEN weiter im Aufwind liegen, aus der deutschen Binnenperspektive ganz nachvollziehbar. Sie haben auf die Themen von Morgen aufmerksam gemacht, sie haben den Weg skizziert, den jetzt, mehr oder weniger alle gehen in Deutschland. Auch in Thüringen. Dort, liest man in der Süddeutschen, treibt Machnik seine CDU-Regierungschefin mit einem Gesetzentwurf vor sich her, der nachhaltige und ökologische Einkaufskriterien für die Einkäufe der öffentlichen Hand festschreiben will. Ohne grünes Parteibuch. Was die aktuelle Zeit in ihrem GRÜNEN Titel über dieselbe Partei schreibt, weiß ich noch nicht. Aber weil Politik ja oftmals nicht nur zu eindimensional, sondern auch zu kurzfrstig tickt, noch ein Hinweis für die Autolobby, aus dem Wochenendteil der Süddeutschen: „Fahr dahin. Die Deutschen verabschieden sich von ihrem Lieblingstraum: Vom Auto wollen immer mehr junge Menschen immer weniger wissen“. Christian Kortmann beschreibt, wie die junge Generation in den Großstädten Autos immer weniger als notwendige Mobilitätshilfen betrachtet. Laut einer Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) haben die 18- bis 24-Jährigen im Jahr 2008 das Auto um zwölf Prozent weniger genutzt als 2002. Nur ein Drittel der Jugendlichen sei daran interessiert, den Führerschein schon mit 17 zu machen. 1998 besaßen 89,4 Prozent der 18- bis 25-Jährigen einen Pkw-Führerschein, 2008 nur noch 75,5 Prozent.“ Überzeugende Zahlen, massive strukturelle Veränderungen, die hier stattfinden. Und die es zu begreifen gilt. Demzufolge verschiebt sich auch die Selbstinzenierung, nach Roland Barthes die Mythen des Alltags: „Hört man sich in der Automobilindustrie um, werden überraschend häufig die Gadgets der Computerfirma Apple als Konkurrenz um das knappe Budget potentieller Fahranfänger genannt. Mit iPhone und iPad kann man zwar weder fahren noch fliegen, sie werden aber auf eine Art vermarktet, als könnten sie ihren Besitzer jederzeit überallhin beamen.“ Der dahinter liegende Paradigmenwechsel ist tiefgreifender als viele wahrnehmen wollen. Alles hängt mit allem zusammen. „Als der Philosoph Roland Barthes in den 1950er Jahren ‚Mythen des Alltags‘ sammelte, erblickte er im Auto ‚das genaue Äquivalent der großen gotischen Kathedralen, eine Schöpfung , die von einem ganzen Volk benutzt wird, das sich in ihr ein magisches Objekt zurüstet und aneignet‘. Wenn die Autos die Kathedralen des 20.Jahrhunderts waren, muss man für das 21. Jahrhundert feststellen, dass die Menschen die Lust an den Kathedralen wie an den Autos verloren haben. Das Auto hat an kulturellem Wert und ikonografischer Kraft eingebüßt, immer weniger junge Menschen sehnen sich danach, isoliert in einer Blechkiste herumzubrausen. Vernetzung heißt der Großtrend der Gegenwart, ein Wandel von einer bevormundenden Kommunikationspraxis hin zu einer der Teilhabe und des Austauschs, ein Trend, der von der Kommentarfunktion bei Onlinemedien bis zu Protesten gegen Bahnhofsumbauten reicht.“ Vernetzung, das Dabeisein dominiert als kultureller Trend die individuelle Selbstinzenierung, mit einem 800 Euro iPhone kommt man locker gegen eine 35.000 Euro Karre an, die soziale Umwertung ist im vollen Gange. Weil natürlich trotzdem die Selbstbespiegelung durch das Auto wichtig ist, als Stutussymbol in Mittelstädten, in manchen, klischeehaft tiefergelegten Migrantenkreisen, und und und.
Viele Politiker denken zu eindimensional, das lässt sich locker schreiben. Aber wie sieht Mehrdimensionalität aus, könnten wir zurück fragen? Ich glaube, die Antwort auf das alles liegt im Theorem der reflexiven Modernisierung. Was nichts anderes heißt, als dass Politik Zuversicht verbreitet, weil sie die Richtung und die Herausforderungen kennt. Und darauf verzichtet, sich im Besitz einer ewig waren Rezeptkiste zu wähnen. Weil sie demütig und wach gegenüber der Wirklichkeit ist. Weil sie regelmäßig nach außen hört, was in den Köpfen der Menschen vor sich gegt und das ebenso aufnimmt wie die Entwicklung in den USA, dem Land des Disruptiven, der Kampagnen, der Selbsttäuschung. Und weil es keine Rezepte mehr gibt, so meine These, ist es wichtig, dass die Richtung stimmt. Dass man nicht vor den Themen von übermorgen wegtaucht, weil die von heute oder morgen aufpoppen. Sondern versucht, das in eine Linie zu bekommen. Und letztllich bedeutet das, Kontinuität in der Haltung zu bewahren, in einem beständigen Navigationsrahmen. Das ist übrigens kein Opportunismus, sondern Weitsicht. Die Welt wird nicht einfacher, wenn man das ständig im Blick hat. Aber die Haltung, mit der vorsichtlig Umsicht gezeigt wird, wird durch immer mehr Menschen geteilt. Das ist die stabile Grundströmung, die die GRÜNEN voran treibt. Und das ist, was andere nicht verstehen. Weil sie zu kurzfristig agieren, weil sie Taktik mit Strategie verwechseln. Oder weil sie einem politischen Größenwahn verfallen sind, die Dinge wären noch steuerbar. Sie sind beeinflußbar, aber nur zu bestimmten Zeiten. Jetzt ist so eine Zeit, in der sich das wirklich neue Deutschland aus dem alten häutet. Wenn es keine Fehler macht dabei. Think global, act local. Der Treppenwitz der Geschichte ist ja dabei, dass das die Schlichtung von Stuttgart 21 so schön sichtbar macht. Die Storyline: Mit 5 Milliarden wird in Stuttgart ein (Alp-)Traum vergraben, der weniger Maximalkapazität hat als die Vorgängervariante, getrieben von einer Vision einer Achse von Bratislava bis Paris, von der jetzt alle sagen müssen, dass die keiner braucht, verbunden mit einer Neubaustrecke, die im schwierigsten Steckenabschnitt das meiste gräbt. Und für den Güterverkehr nochmals weniger erreicht, als jetzt schon ist. Muss man ein knallharter Marxist sein, um zu erkennen, wer hier den Nutzen von dem Projekt hat: Ein paar Technokratenpolitiker, die ein schönes Modellspielzeug haben. Und einige Baukonzerne, die die halbe Stadt und die Alb durchgraben möchten. Nein, Stuttgart 21 ist kein Investitionsprogramm, es ist, wenn auch wider Willen, ein Programm gegen Politikverdrossenheit. Was die Nutznießer dieser Situation, das sind die Grünen, die jahrelang alleine da standen mit ihrer Kritik, nicht der Sorge enthebt, wie man die Ausstiegskosten möglichst reduzieren kann. Den Tiger reiten, nennt man das.
Ach ja, diese Woche wurde übrigens auch noch der Transrapid offiziell erledigt. Der Transrapid, erinnern sie sich? Geile Technologie, nur keiner wollte sie haben. Außer die Politiker, die sich mit ihr im Emsland immer im Kreis gedreht haben. Völker, hört die Signale, die Leichen der sechziger Jahre werden jetzt begraben. Und manche der möglichen Leichen von morgen zucken heute noch heftig. Zum Beispiel in Stuttgart.