Zufluchtsort Deutschland
8. September 2015 von Nikolaus
Wir sind schon ein ungewöhnliches, wenn nicht sogar ein unglaubliches Land. Deutschland schafft sich nicht ab, es macht sich auf. Hätte irgendjemand prognostiziert, dass Deutsche zu Hunderten oder Tausenden an Bahnhöfen stehen, um Flüchtlinge zu empfangen? Ich nicht. Gut, kann man einwenden, es geht dem Land gut. Aber von einem Land, von dem alle sagen, dass die Stimmung der Deutschen noch schlechter ist als ihre Lage, hätte man anderes erwartet. Die Konflikte der Welt werden in den Köpfen vieler Deutscher nicht verdrängt, sondern wahrgenommen. Eine Spekulation, warum. Und wie alles weiter gehen könnte.
Nein, wir vergessen die Neonazis nicht. Und die, die an dem klassischen Innen/Außen festhalten wollen, vergessen wir auch nicht. Die, für die WIR, die Deutschen sind. Und DIE ANDEREN die Welt. Sollen sie doch zurecht kommen, wie sie wollen.
Ich bin ja jemand, der üblicherweise über das Gutmenschentum die Nase rümpft. Politik sollte nüchtern sein, Abwägungen treffen und nicht reflexhaft Gefühls- und Stimmungslagen aufgreifen.
Jetzt kann man natürlich Angela Merkel vorwerfen, sie hätte erst spät reagiert auf das Flüchtlingsthema. Gut, es gab eine kleine Verzögerung, in der Haltung gegenüber dem Dresdner Umfeld hat sich die CDU insgesamt nicht mit Ruhm bekleckert, aber das ist alles Klein-Klein gegenüber dem großen Konsens, den es in Sachen Flüchtlingsaufnahme gibt.
Großes Lob auch an die Opposition. Reaktionäre, „deutsche“ Stimmungslagen, sind im medial repräsentierten Deutschland nicht zu verzeichnen.
Deutschland verhält sich menschlich und reflexiv. Einerseits menschlich, weil in einer offenen globalisierten Welt haben offensichtlich viele, die die Fluchtrisiken am Bildschirm mitverfolgt haben, verstanden, dass das, was sie sehen, real ist. Und reale menschliche Reaktionen erfordert. Mitmenschlichkeit. Und seitens der Politik gibt es natürlich die Diskussion, wie viele Flüchtlinge das Land aufnehmen kann. Und was es tun muss, damit dieses Land diese Flüchtlinge gut integrieren oder aber auch abschieben kann, wenn eben keine unmittelbaren Fluchtgründe vorliegen.
Was ist jetzt also „richtige Politik“? Ich würde immer noch sagen: Sich vortasten. Die spontane Hilfsbereitschaft bedeutet tatsächlich nicht, dass nicht AUCH Fremdenfeindlichkeit in Deutschland vorhanden ist. Das Angebot der Bundesregierung, für diese Fragen 6-10 Mrd. € bereit zu stellen, wird natürlich bei denen, die sich gefährdet fühlen, Neid-, besser Verdrängungsängste hervorrufen. Das wird die Kunst sein, hier einen Weg zu finden, solidarisch zu sein mit denen, die flüchten, aber auch darauf achten, dass die Stimmungen im Inneren nicht umschlagen.
Global betrachtet stellt sich die Welt doch wie folgt dar: Der Westen hat im Nahen Osten längst kapituliert. Syriens Assad wird, widergängerisch, von Putin gestützt. Dabei hat Assads Bombenterror ebenso große Schäden angerichtet, wie die köpfenden und bilderstürmenden Islamisten. Rezepte gegen das Vordringen der IS gibt es nicht, weil zu viele Parteien zu viele Interessen haben. Das Einzige, was mittelfristig hilft, ist die Abwendung vom Öl, weil sie die Handlungspotentiale der Öldespoten beschneidet. Daneben Demut, schließlich ist das Nahost Deseaster ein West-Deseaster. Europäischer Kolonialismus mit Reißbrett-Nationen, dann der Ölboom, jetzt sind alle Gesellschaften aus ihren Verankerungen gerissen. Afghanistan hat übrigens gezeigt, dass eine ehrlich als Friedensmission geplante militärische Intervention, scheitert. Der Westen kann offensichtlich die Länder im Nahen und mittleren Osten nicht befrieden. Zu tiefgreifend sind die Verwerfungen, die über Jahrzehnte aufgeworfen worden sind.
So betrachtet ist es eine moralische Pflicht Europas, die Opfer ihrer Politik aufzunehmen. Ob es gut weiter geht, können wir nur sagen, wenn wir offen an die Situation herangehen. Und hier unterscheidet sich eine Angela Merkel dann doch vom Vorbild Kohl. Niemand verspricht blühende Landschaften, alle betonen, dass diese Frage mittelfristig gelöst werden muss.
Intuitiv reagiert dieses Land also in seiner Mehrheit den Umbrüchen der Welt gegenüber angemessen. Wirkich erstaunlich und erfreulich. Eine neue Globalethik, die sich hier zeigt. Politik kann darauf aufbauen, wenn sie es versteht.